Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Schleiermacher. 305 
befreiten Völker erwachte, durch die Erinnerung an jene Zeit der Gäh— 
rung in ihrer kleinlichen Angst bestärkt. 
Genug, der preußische Staat blieb auch in dieser Bedrängniß seinem 
monarchischen Charakter treu. Was auch Einzelne auf eigene Faust für die 
Befreiung des Vaterlandes planen mochten, ihre verwegensten Hoffnungen 
gingen doch nur darauf, den Monarchen mit sich fortzureißen, sie gedachten 
für den König, wenn auch ohne seinen Befehl zu kämpfen. Das treue 
Volk aber konnte zu den Versuchen eigenmächtiger Schilderhebung niemals 
Vertrauen fassen; der Aufstand gelang erst als der König selbst die Seinen 
zu den Waffen rief. Die Unfreiheit, die im Wesen jedes Geheimbundes 
liegt, sagte dem trotzigen Selbstgefuhle der Deutschen nicht zu. Grade 
die Besten und Stärksten wollten sich nicht also selber die Hände binden, 
sie sagten wie Gneisenau: „mein Bund ist ein anderer, ohne Zeichen, 
ohne Mysterien, Gleichgesinntheit mit Allen, die ein fremdes Joch nicht 
ertragen wollen.“ Ungleich mächtiger als die Thätigkeit der geheimen Ver- 
eine war jene große Verschwörung unter freiem Himmel, die überall, wo 
treue Preußen wohnten, ihre Fäden schlang. Wer verzagen wollte, fand 
überall einen Tröster, der ihn mahnte zu harren auf die Erfüllung der 
Zeiten. Niemand aber im ganzen Lande sah dem Tage der Entscheidung 
mit so unerschütterlicher, leuchtender Zuversicht entgegen, wie General 
Blücher. Der wußte großen Sinnes das Wesentliche aus der Flucht der 
Erscheinungen herauszufinden, die innere Schwäche und Unmöglichkeit des 
napoleonischen Weltreichs stand ihm außer allem Zweifel. Zaghafte Ge- 
müther hielten ihn für toll, als er in seiner derben Weise über den Herr- 
scher der Welt kurzab sagte: „laßt ihn machen, er ist doch ein dummer Kerl!“ 
In der alten Zeit des geistigen Schwelgens konnte ein feingebildeter 
Berliner nicht leicht auf den Gedanken kommen, daß es Pflicht sei die 
Genüsse der reizvollen geistsprühenden Geselligkeit dahinzugeben für die 
Rettung des in langweiliger Steifheit erstarrten Staates. Jetzt fühlten 
Alle, daß der Reichthum der Bildung Keinem den Frieden der Seele 
sicherte, daß die Schande des Vaterlandes einem Jedem die Ruhe und 
Freude des Hauses störte, und in den beladenen Herzen fanden Schleier- 
macher's Predigten eine gute Stätte. Er vor allen Andern wurde der 
politische Lehrer der gebildeten Berliner Gesellschaft. Dichte Schaaren 
Andächtiger drängten sich in den engen Rundbau der dürftigen kleinen 
Dreifaltigkeitskirche, wenn er in seinen breit dahinrauschenden, echt red- 
nerischen Perioden, in immer neuen Wendungen den sittlichen Grund- 
gedanken dieser neuen Zeit verkündigte: daß aller Werth des Menschen 
in der Kraft und Reinheit des Willens, in der freien Hingabe an das 
große Ganze liege: mehr denn jemals gelte jetzt die Mahnung des Apo- 
stels, zu haben als hätten wir nicht, Besitz und Leben nur als anver- 
traute Güter zu betrachten, die dahinfahren müßten für höhere Zwecke, 
und die Feinde nicht zu fürchten, die nur den Leib töden können; wie 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. J. 20
	        
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