Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

390 I. 3. Preußens Erhebung. 
noch ein willenloser Trümmerhaufen, zählte gar nicht mehr mit in der 
Reihe der Mächte. 
So stand man denn abermals allein. Eine Kriegserklärung in sol- 
cher Lage mußte den Staat vernichten bevor noch ein russischer Säbel 
aus der Scheide fuhr. Was Wunder, daß nach Alledem im Januar 
1812 die französische Partei am preußischen Hofe sich wieder hervorwagte. 
Ihr Wortführer war Ancillon — der Hofpfaffe, wie Gneisenau ihn 
nannte — ein unterthäniger, seichter Schönredner, feigherzig von Natur, 
immer zum kleinmüthigsten Entschlusse geneigt. Der führte mit seiner 
widerlichen theologischen Salbung in breiter Denkschrift aus, daß Napo- 
leon freundliche Absichten gegen die preußische Monarchie hege, denn sonst 
hätte er sie längst zerstört, und rieth dringend zum Anschluß an Frank- 
reich. Der König dachte anders. Nicht einen Augenblick glaubte er an 
die Großmuth des Imperators; hatte er doch aus dem Schicksal des 
Oldenburger Herzogs soeben gelernt, daß selbst ein Bündniß keine Sicher- 
heit bot gegen die Gewaltschläge dieses Freundes. Aber er sah die Lage 
wie sie war: begann man den Krieg für Rußland und doch ohne russi- 
sche Hilfe, so opferte man sich unfehlbar und völlig nutzlos; schloß man 
sich dem Verhaßten an, so wurde dem Staate freilich nur für ein Jahr 
das Dasein gefristet, jedoch ein Jahr war viel in so wilder Zeit, und 
vielleicht zeigte sich dann noch irgend ein anderer Weg der Rettung. Er- 
schüttert, verzweifelt stand der unglückliche Fürst zwischen seinen theuersten 
Neigungen und dem Staatsinteresse. Noch einmal versuchte er einen 
Ausweg. Oberst Knesebeck, ein erklärter Anhänger der Friedenspartei, 
wurde nach Petersburg geschickt um den Czaren zu beschwören, daß er 
einen Unterhändler nach Paris sende, diesen für Preußen auf jeden Fall 
verderblichen Krieg abzuwenden suche; komme es zum Schlagen, so sei 
der König nicht in der Lage, sich dem französischen Bündniß zu entziehen. 
Auch dieser letzte Versuch rathloser Verlegenheit schlug fehl. Alexander 
konnte nur erwidern: er wünsche den Frieden so aufrichtig wie der König; 
doch im Nothfalle wolle er sich tapfer vertheidigen „gegen einen zugleich 
ungerechten und grundlosen, nur durch den unersättlichen Ehrgeiz Napo- 
leon's herbeigeführten Angriff.“) Nunmehr war die Allianz mit Na- 
poleon unvermeidlich. 
Der Imperator hatte unterdessen seinen Beschluß gefaßt. Um den 
russischen Krieg ohne Aufenthalt sogleich am Niemen eröffnen zu können 
hielt er es doch für gerathen sich vorläufig mit der friedlichen Unterwerfung 
Preußens zu begnügen. Die preußischen Rüstungen waren, auf seine 
Drohung, schon im Herbst theilweise eingestellt worden; jetzt hatte er an 
300,000 Mann dicht an den Grenzen des Staates stehen. Noch bevor 
die Verhandlung zum Abschluß kam streiften französische Truppen von 
Magdeburg und Schwedig-Pommern aus in das preußische Gebiet hin- 
*) Kaiser Alexander an König Friedrich Wilhelm, 22. Febr. 1812. 
 
	        
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