396 I. 3. Preußens Erhebung.
Norddeutschland schwebte auf tausend Lippen die bange Frage, ob das
Geschick nicht endlich den Himmelsstürmer ereilen werde. Wie ein fremder,
greller Mißton klang in das erwartungsvolle Schweigen ein höfisches
Gedicht Goethe's auf Marie Luise; der Alte konnte sich in die verwandelte
Zeit nicht finden und feierte den Caesar, der soeben die Blüthe der eu-
ropäischen Männerkraft zur Schlachtbank führte, mit dem Verse: der
Alles wollen kann will auch den Frieden! Napoleon war fast ohne
Aufenthalt durch Warschau gezogen; denn „die grenzenlose Zukunft vor
mir gestattet mir nicht, in Polen auch nur eine Beiwacht zu halten.“
Er hatte sich bereits, wie Hardenberg bei Maret erfuhr'), mit dem Plane
beschäftigt seinen Bruder Jerome zum König von Polen zu erheben und
ließ es geschehen, daß eine General-Conföderation in Warschau die
Wiederherstellung des Polenreichs ausrief. Feste Zusagen gab er dem
unglücklichen Volke auch jetzt nicht, sondern wies seinen Botschafter in
Warschau an „die nationalen Bestrebungen zu ermuntern ohne die libe-
ralen zu erwecken“. Er stürmte vorwärts, aber schon bevor der Feind
in Sicht kam begann sich die Ordnung in dem Heere aufzulösen. Vor-
nehmlich an ihrer Zuchtlosigkeit ist diese glänzende Armee zu Grunde
gegangen. Die von obenher anbefohlene Ausplünderung der preußischen
Lande hatte die Truppen an den Raub gewöhnt. Der Soldat lebte in
beständigem Kriege mit den Feldgensdarmen, ein Gewölk von Marodeurs
umschwärmte Flanken und Rücken des Heeres; nur die deutschen und
die polnischen Regimenter hielten gut zusammen. Die früher so treffliche
Armceverwaltung zeigte sich durchweg unredlich und nachlässig, der größte
Theil der ungeheuren Vorräthe ging schon auf dem Hinwege zu Grunde.
Als Napoleon in die altrussischen Lande eindrang, da ließ er, wie einst
Karl XII. auf dem Zuge nach Pultawa, das von Parteien zerrissene
Polen und das gründlich verwüstete Litthauen in seinem Rücken.
Scharnhorst hatte dem Czaren gerathen, den Krieg nach Parther-
weise zu führen, den unendlichen Raum als Waffe zu benutzen und den
Feind tief in das öde Innere des weiten Reiches zu locken. Der rus-
sische Stolz verschmähte den weisen Rath, dem auch Gneisenau und alle
bedeutenden preußischen Offiziere beistimmten. Der Czar hoffte vielmehr,
der Feind werde sich an dem festen Lager von Drissa die Hörner ein-
stoßen; das glänzende Beispiel von Torres Vedras blendete noch die
Augen aller Welt. Nur das Gefühl der eigenen Schwäche nöthigte die
russische Heerführung, wider ihren Plan und Willen, zu beständigem
Rückzuge. Indessen begannen die Bauern auf eigene Faust den Parther-
krieg; sie erwarteten alles Gräßliche von dem heidnischen Feinde, flüch-
teten ihre Herden und Vorräthe in die Wälder, gaben die werthlosen
leeren Holzhütten preis, und wo ein Versprengter in ihre Hände fiel,
schlugen sie ihn nieder wie einen tollen Hund. Der Grimm des gläu-
*) Hardenberg's Tagebuch 30. Mai 1812.