Der russische Krieg. 397
bigen Volkes wuchs noch als die heilige Stadt Smolensk mit ihren Kir—
chen und Gnadenbildern nach blutigen Gefechten von den Feinden besetzt
wurde. Weiter und weiter ging der Zug des Eroberers in das menschen—
leere Land hinein; mit jedem neuen Tage lichteten sich die Reihen seines
Heeres. Die Leidenschaft der Massen zwang endlich den russischen Ober—
feldherrn Kutusow, bei Borodino eine Schlacht um' den Besitz von Moskau
zu wagen; die Uebermacht und die Tapferkeit der Truppen, vor Allen
der sächsischen Reiterei, schenkten dem Imperator den Sieg, den blutigsten,
den er noch erfochten. Nochmals hoffte er, wie so oft schon, in der
eroberten Hauptstadt den Frieden zu dictiren und vergendete, nachdem
der Feldzug ohnehin allzu spät im Jahre begonnen worden, noch fünf
unschätzbare Wochen durch fruchtlose Friedensverhandlungen. Während-
dem that der altrussische Fanatismus sein Aergstes; der Brand von Moskau
zeigte der Welt, wessen ein in seinen heiligsten Gefühlen beleidigtes halb-
barbarisches Volk fähig ist. Bei der gräßlichen Plünderung der unglück-
lichen Stadt verlor das Heer seinen letzten sittlichen Halt. Der Eroberer
sollte an seinen eigenen Truppen die Wahrheit seines oft wiederholten
Ausspruchs erfahren, daß Tapferkeit nur die zweite, Mannszucht und
Ausdauer die erste Tugend des Soldaten ist.
Als der Rückzug aus der verödeten Stadt unvermeidlich wurde,
konnte sich Napoleon's Hochmuth — er selbst nannte es seine Seelen-
größe — nicht entschließen, die offene nördliche Straße einzuschlagen; so
hätte er eingestanden, daß er vor dem russischen Heere, das südwärts
von Moskau stand, zurückwich. Er gedachte vielmehr den Feind zu
schlagen und sich den Rückzug auf der südlichen Straße zu erzwingen.
Das übermüthige Unternehmen mißlang; durch die Schlacht von Malo-
Jaroslawetz wurde die große Armee wieder auf die mittlere Straße ab-
gedrängt, welche sie beim Einmarsch benutzt hatte. Damit war ihr
Untergang entschieden. Der Heuschreckenschwarm mußte denselben Weg
zurück, den er schon bis auf den letzten Halm abgegrast. Die Witterung
blieb noch eine Zeit lang leidlich, und auch als der Frost, ungewöhnlich
spät, eintrat, ward die Kälte kaum ärger als vor sechs Jahren in dem
polnisch-ostpreußischen Feldzuge. Aber vor dem unglücklichen Heere lag
die unermeßliche Schneewüste. Kein Dorf, keine Feuerstatt so weit das
Auge reichte; alle Vorräthe verloren, alles Ansehen der Oberen vernichtet,
dazu ringsum die schwärmenden Kosaken und in den Wäldern die er-
bitterten Bauern. Alles Elend, das nur irgend die Sterblichen heim-
suchen kann, brach über die Unseligen herein; es war als ob die Reiter
der Apokalypse über die Schneefelder daherrasten. Nach dem gräuelvollen
Uebergange über die Beresina löste sich jede Ordnung; in regellosen Haufen
schleppten sich die armen Trümmer des stolzen Heeres, insgesammt kaum
30,000 Mann, dahin — wankende, hohlwangige Jammergestalten, viele
blind und taub vor Kälte, mit wölfischem Hunger an jedem Aase nagend,