Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Stein in Petersburg. 399 
Frauen empfanden die natürliche Verwandtschaft, welche das sichere Ge— 
fühl des Weibes mit dem Genius verbindet. 
Lange bevor der Untergang der großen Armee sich entschied, schon 
im September entwarf er die Pläne für Deutschlands künftige Verfassung — 
das Idealste und Verwegenste was je zuvor über deutsche Politik gedacht 
worden. Und dies bildet, nächst seiner Theilnahme an der Umgestaltung 
Preußens und der Befreiung Europas, das dritte welthistorische Verdienst 
des Mannes: er hat früher und schärfer als irgend ein Staatsmann die 
Einheit Deutschlands, ohne Phrasen und Vorbehalte, als das höchste Ziel 
deutscher Staatskunst aufgestellt. Wer ihm von Schonung der althergebrach- 
ten Zersplitterung redete, dem erwiderte er: einen solchen Zustand wieder- 
herstellen ist gerade so als wollte man darauf bestehen, daß ein todter Mann 
auf seinen Beinen stehen solle weil er es thun konnte so lange er noch 
lebte. Jede Rücksicht auf die Dynastien schien ihm unwürdig: als ob es in 
Deutschland darauf ankäme, ob ein Mecklenburg oder Baiern existire, und 
nicht ob ein starkes, festes, kampffähiges deutsches Volk ruhmvoll im Krieg 
und Frieden dastehe; sollte dieser Krieg dahin führen, daß die alten Streitig- 
keiten der deutschen Montecchi und Capuletti wieder auflebten, dann wäre 
der große Kampf mit einem Possenspiele beendigt! Sein Ziel war „die 
Einheit und, ist sie nicht möglich, ein Auskunftsmittel, ein Uebergang“. 
Jetzt, da der gesammte Länderbestand Europas in's Wanken kam, meinte 
er selbst das Höchste erreichbar; eine große Monarchie von der Weichsel 
bis zur Maas, ebenso Italien zu einer geschlossenen Masse verbunden — 
ganz Mitteleuropa zurückgeführt in einen Zustand „der Kraft und Wider- 
standsfähigkeit". Sei dies nicht möglich, so solle man Deutschland nach 
dem Laufe des Mains zwischen Oesterreich und Preußen theilen, die 
Rheinbundsfürsten als betitelte Sklaven und Untervögte des Eroberers 
behandeln, auch die von Napoleon verjagten Fürsten nicht wieder einsetzen. 
Könne man auch dies nicht erreichen, so bleibe als letzter Ausweg, daß 
man jedem der beiden „verfassungsmäßigen Königreiche“ Oesterreich und 
Preußen einige Kleinstaaten als Vasallen unterordne, etwa Baiern, Würt- 
temberg, Baden mit geschmälertem Gebiete der südlichen, Hannover, Hessen, 
Oldenburg, Braunschweig der nördlichen Macht. 
Wohl oder übel suchte er also seine unitarischen Wünsche mit den 
Ideen des Bartensteiner Vertrags in Einklang zu bringen. Auf jeden 
Fall sollte der Befreiungskrieg mit radicaler Kühnheit geführt, das er- 
oberte deutsche Land als herrenloses Gut vorläufig von einem Verwaltungs- 
rathe der Verbündeten regiert werden. Unter den Verbündeten dachte er 
sich zunächst Rußland, Oesterreich und England; ihnen komme es zu das 
zaudernde Preußen mit sich fortzureißen. So tief war sein Widerwille 
gegen die listenreiche Politik Hardenberg's. Die zwingenden Gründe, welche 
das Verhalten des Königs in den Jahren 1809 und 1811 bestimmt 
hatten, wollte der Erzürnte niemals gelten lassen, und obwohl die feurigen
	        
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