Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

412 I. 4. Der Befreiungskrieg. 
man auch wünschte, daß Preußen wieder einigermaßen zu Kräften käme, 
eine selbständige, der Hofburg ebenbürtige Macht durfte sich im Norden 
nicht bilden — jetzt am allerwenigsten, da jeder neue Tag von der stürmi- 
schen Erregung des norddeutschen Volkes Kunde brachte, da der preußische 
Staat haltlos den dämonischen Mächten der Revolution verfallen, sein 
König nur „an der Seite", nicht an der Spitze der Nation zu stehen 
schien. Darüber war Kaiser Franz mit seinem Schwiegersohne durchaus 
einverstanden, daß nur Aufruhrstifter ein sogenanntes Deutschland wollen 
könnten. Willig glaubte er alle Märchen der napoleonischen Polizei über 
das revolutionäre Treiben der preußischen Geheimbünde; noch im März 
bat sein Gesandter den König von Preußen, natürlich vergeblich, um Auf- 
lösung der geheimen Vereine. Von der deutschen Gesinnung seines eigenen 
Volkes hatte er freilich wenig zu fürchten; der edle Rausch des Jahres 
1809 kehrte niemals wieder, das Teutonenthum der norddeutschen Dichter 
und Volksredner erregte bei den ermüdeten Wienern nur Spott und 
Hohn. Indeß selbst die vereinzelten Spuren patriotischen Sinnes waren 
dem Despoten unheimlich. Er vergaß es nicht, daß auch einige öster- 
reichische Offiziere in russischen Dienst getreten waren. Der gefährliche 
preußische Verschwörer Justus Gruner war längst auf die Festung ge- 
schafft worden, und als im Frühjahr Hans von Gagern mit einigen 
Patrioten in Vorarlberg und Tyrol eine Volkserhebung vorzubereiten ver- 
suchte, griaff der Kaiser sofort mit Verhaftungen und Ausweisungen ein. 
Ein anderer leitender Gedanke der Hofburg war die Furcht vor 
Rußland. In späteren Jahren gestand Metternich dem preußischen Staats- 
kanzler: seit dem Augenblicke, da die napoleonische Macht in's Wanken 
gekommen, habe ihn vorwiegend die neue Sorge beschäftigt: „die Unmög- 
lichkeit, zu verhindern, daß eine ungeheuere Machtvergrößerung Rußlands 
das nothwendige Ergebniß der Zertrümmerung des französischen Kolosses 
würde.““) Und wie vortheilhaft war es doch andererseits, einen so mäch- 
tigen Schwiegersohn zu besitzen — einen so wohlgesinnten Mann, der die 
Revolution überwunden hatte und mit gleichem Abscheu wie Metternich 
von dem Jacobiner Stein redete! Auch persönliche Rücksichten spielten 
mit. Metternich war durch die französische Allianz an's Ruder gelangt; 
trat ein plötzlicher Wechsel des Systems ein, so mußte fast unver- 
meidlich sein Gegner Stadion die Leitung der Geschäfte übernehmen. 
Zudem wichen die Absichten der Hofburg für Deutschlands Zukunft sehr 
weit ab von den Gedanken des preußischen Staatskanzlers. Harden- 
berg nahm seine dualistischen Pläne in vollem Ernst, wünschte für Oester- 
reich eine feste Stellung am Oberrhein, für Preußen am Mittel= und 
Niederrhein, damit also eine gemeinsame Vertheidigung des künftigen 
Deutschen Bundes möglich würde. Und gewiß, war der Deutsche Bund 
  
*) Metternich an Hardenberg, 9. Januar 1818.
	        
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