Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Der Landsturm. 443 
neue Erlasse gemildert. Der Landsturm stand fortan unter den Kriegs— 
artikeln und diente wesentlich zur Ausbildung der Reservebataillone für 
die Landwehr; in den großen Städten fiel er ganz hinweg, aus dem 
brauchbarsten Drittel seiner Mannschaft wurden Bürger-Compagnien für 
den Sicherheitsdienst gebildet. Gleichwohl war die Errichtung des Land— 
sturms sehr folgenreich. Sie belebte in dem Volke das Bewußtsein, daß 
dieser heilige Krieg die gemeinsame Sache Aller sei; wie vielen wackeren 
Alten ist es ein Trost geblieben bis zum Grabe, daß sie doch auch die 
Waffen für das Vaterland getragen hatten. Noch stärker war die Wir— 
kung auf die Feinde, die nach ihren spanischen Erfahrungen nichts so sehr 
fürchteten als einen Krieg Aller gegen Alle. Schon der glücklich gewählte 
Name dieses Volksaufgebots erregte Schrecken im Lager der Rheinbündner; 
wie unheimlich klang das Landsturmlied: 
Ha Windsbraut sei willkommen, 
Willkommen Sturm des Herrn! 
Die übereilte Räumung der Marken im Frühjahr und nachher die un- 
sicheren Operationen der Marschälle auf ihren Zügen gegen Berlin er- 
klären sich nur aus der unbestimmten Angst vor einer Massenerhebung. 
Ein wunderbarer Anblick, wie dieser von allen Geldmitteln entblößte 
Mittelstaat so mit einem male wieder eintrat in die Reihe der großen 
Militärmächte. Nur ein Meister konnte allen den ungestümen Kräften, 
die so urplötzlich aus den Tiefen unseres Volkslebens hervorbrachen, Form, 
Maß und Richtung geben. Unbeirrt durch Widerspruch und Verkennung 
führte Scharnhorst seine militärisch-politischen Pläne durch, und ihm ge- 
lang was in der modernen Geschichte für unmöglich gegolten hatte: ein 
ganzes Volk zu einem kriegsfertigen Heere umzubilden. Ihm ward das 
höchste Glück das dem großen Menschen beschieden ist: er durfte endlich 
zeigen was er vermochte. Er wußte, daß die Geschicke seines Landes 
auf seinen Schultern lagen, und einmal doch kam ein Wort des Stolzes 
über die Lippen des Anspruchslosen: „ich verfahre despotisch,“ so schrieb 
er seiner Tochter, „und lade viel Verantwortung auf mich, aber ich glaube 
dazu berufen zu sein.“ 
Hardenberg's diplomatische Künste, die Schwankungen am Hofe und 
das Warten auf Oesterreich hatten den Ausbruch des Krieges um einige 
Wochen verzögert. Und doch fühlte sich Napoleon überrascht; Maret selbst 
gestand dem Gesandten Krusemark beim Abschied: sein Kaiser hätte die 
Gefahr nicht für so nahe gehalten.) Durch den Abfall Preußens wurden 
die Kriegspläne des Imperators verändert. An einen Angriff auf das Czaren= 
reich ließ sich vorerst nicht mehr denken, die nächste Aufgabe war die Ver- 
nichtung Preußens. Schon am 27. März ließ Napoleon der Hofburg die 
Auftheilung des preußischen Staates vorschlagen, dergestalt, daß Schlesien 
  
*) Krusemark's Bericht, 13. März 1813.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.