Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Schwenkung der englischen Politik. 579 
eine Gefahr für die Ruhe Europas," sagte Wellington in Paris zu dem 
preußischen Gesandten Goltz, „besonders jetzt, wo man durch die Verbrei- 
tung allzu liberaler Grundsätze von oben her in die meisten Völker einen 
gewissen Gährungsstoff gelegt hat.““.) England besaß bereits Alles was 
sein Herz begehrte: das Cap und Ceylon, Malta und Helgoland, das 
vergrößerte Hannover und den verstärkten niederländischen Gesammtstaat. 
Außer den ionischen Inseln, die man in Wien noch zu erwerben hoffte, 
blieb auf der weiten Welt nichts mehr zu wünschen übrig. Mit erha- 
bener Uneigennützigkeit konnte man also, unter dem Beifall aller aufge- 
klärten Geister, den Anwalt des europäischen Gleichgewichts spielen. 
Zugleich stand Castlereagh in regem Verkehr mit den Tuilerien. 
Der Czar hatte den Bourbonen schon nach wenigen Wochen seine Gunst 
wieder entzogen; Ludwig XVIII., gekränkt durch Alexander's Stolz, war 
mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß- 
land zu unterstützen. Castlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über 
die polnische Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte sich 
zugleich bei seinem Gesandten Wellington, ob Frankreich in der Lage sei, 
dieser Ansicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiserne Herzog 
erwiderte: „die Lage der europäischen Angelegenheiten wird nothwendiger- 
weise England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congresse 
machen, wenn diese Mächte sich verständigen, und ein solches Einverständ- 
niß mag den allgemeinen Frieden bewahren.“ Castlereagh dachte noch 
keineswegs sich von den alten Alliirten gänzlich loszusagen; vielmehr sah 
er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz. Er 
kannte das tiefe Friedensbedürfniß seines ermüdeten Landes und wußte, 
daß auch Oesterreich nur mit diplomatischen Waffen gegen Rußland 
kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud sich in die polnischen 
Händel zu mischen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichenbach 
und Teplitz, und dieser gedankenlose Vertragsbruch konnte, bei der Klug- 
heit des französischen, der Thorheit des englischen Cabinets leicht zur Zer- 
störung der Coalition führen. 
Auch in der niederländischen Frage war England den preußischen 
Plänen nicht günstig. Während jenes Aufenthalts der Monarchen in 
London wurde die Vereinigung Belgiens und Hollands durch die Allürten 
endgiltig anerkannt, aber das ewige Bündniß mit Deutschland, das Har- 
denberg vorgeschlagen, fand weder bei den Holländern noch bei ihren 
britischen Beschützern Anklang. Als ein völlig unabhängiger europäischer 
Fürst wollte der Oranier, ohne jede Gegenleistung, sich des Schutzes der 
preußischen Waffen erfreuen. Seine Politik verfolgte fortan den zwei- 
fachen Zweck, dem preußischen Befreier möglichst viel deutsches Land auf 
dem linken Rheinufer zu entreißen und dem welfischen Hause die an 
  
*) Goltz's Bericht, Paris, 2. Sept. 1814. 
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