Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

580 I. 5. Ende der Kriegszeit. 
Holland angrenzenden ostfriesisch-westphälischen Provinzen zu verschaffen, 
damit eine geschlossene welfisch-oranische Macht den Preußen im Nord- 
westen das Gleichgewicht halte. Graf Münster wirkte in demselben Sinne. 
Mit Entsetzen hörten die welfischen Diplomaten von jenem preußischen 
„Isthmus“, der Hannover im Süden umfassen sollte; nimmer durfte das 
stolze Welfenreich eine Enclave des verhaßten Nachbarstaates werden. 
Während das siegreiche England seine Kraft vergeudete an die künst- 
liche Bildung des niederländischen Staates, der sechzehn Jahre nachher 
unter Englands eigener Mitwirkung wieder zertrümmert ward, verschaffte 
die gewandte Staatskunst der Bourbonen dem gedemüthigten Frankreich 
erstaunlich schnell wieder seine alte Stellung im Staatensysteme. Talley- 
rand führte seinen Staat von den Träumen napoleonischer Weltherrschaft 
zurück zu jener nationalen Politik, die seit den Tagen Heinrich's IV. mit 
allen Vorurtheilen und Gewohnheiten der Franzosen fest verwachsen war: 
in der Zersplitterung der Nachbarmächte, in der Begünstigung der Klein- 
staaten sollte Frankreich seine Stärke suchen. Wohl nirgends hat diese 
Politik, die bis zum heutigen Tage fortwährt, einen so durchsichtig klaren 
Ausdruck gefunden, wie in der Instruction, welche Talleyrand im Sep- 
tember 1814 für sich selbst niederschrieb. Der Vertrag war noch kaum 
unterzeichnet, wodurch Frankreich sich verpflichtete an der Entscheidung der 
Gebietsfragen nicht theilzunehmen; und sofort, als sei nichts versprochen, 
mit unerschütterlicher Gewissenlosigkeit, entwarf der französische Staats- 
mann ein vollständiges Programm für die Neugestaltung der europäischen 
Karte. Da jener Artikel des Pariser Friedens auf Frankreichs Betrieb 
geheim gehalten wurde, so ahnte das große Publicum gar nicht, welchen 
unerhörten Vertragsbruch das französische Cabinet beging. Talleyrand's 
Instruction folgte Punkt für Punkt der vertraulichen Pariser Denk- 
schrift, worin Hardenberg die preußischen Gebietsansprüche dargelegt hatte, 
und beantwortete alle deutschen Fragen durchaus im Sinne des öster- 
reichischen Cabinets. Jener preußische Entwurf ist also höchstwahrschein- 
lich durch Metternich an Talleyrand verrathen und zwischen den beiden 
Staatsmännern genau besprochen worden: — ein Probestück österreichischer 
Bundestreue, das sich nachher in Wien noch mehrmals wiederholte. 
Ludwig XVIII. wußte wohl, daß Preußen die Napoleoniden arg- 
wöhnisch beobachtete und mehrmals bei den Alliirten die Entfernung 
Bonaparte's aus Elba beantragte; doch er wußte auch, daß der preußische 
Hof die Bourbonen kaum minder mißtrauisch ansah als den gestürzten 
Usurpator. Auf Augenblicke schien sich zwar ein freundliches Verhältniß 
zwischen den beiden Höfen herzustellen. Der Herzog von Berry hoffte 
auf die Hand der schönen Prinzessin Charlotte von Preußen und ließ den 
Grafen Goltz mehrmals über diese zarte Frage ausforschen.) Indeß da 
  
*) Goltz's Berichte vom 20. Juli 1814 u. f.
	        
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