Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Schöler's Berichte aus Petersburg. 587 
Wünsche Ihres Freundes zu erfüllen. Die Billigkeit der Forderungen 
Ew. Majestät beruht auf den Vortheilen, welche Europa Ihnen zu ver— 
danken haben soll und wirklich hat, so lange die Unabhängigkeit der an— 
deren Staaten ungefährdet, der eben erfochtene Frieden ungestört bleibt. 
Rußlands innere Kraft und seine daraus entspringende Sicherheit ist 
unleugbar. Soll durch überwiegende Vortheile seiner Abgrenzung mit 
den Nachbarn diese Kraft so weit vermehrt werden, daß die Sicherheit 
dieser Nachbarn gefährdet wird, so schwindet jenes Verdienst Ew. Majestät 
um Europa völlig.““) Eine solche Sprache, die nicht einmal den Versuch 
einer Annäherung machte, konnte den Czaren nur in seinem herrischen 
Trotze bestärken; er wich fortan jeder Unterredung aus. 
In seinen Berichten an den Staatskanzler und in einem ausführ- 
lichen „Memoire über Rußlands Forderungen“ entwarf der Gesandte 
ein finsteres Schauergemälde von Alexander's Ehrgeiz. Wahres und 
Falsches wirft er wirr durcheinander. Er vermuthet, daß der Czar 
selbst Memel, ja ganz Ostpreußen zu gewinnen gedenke, und verweist war- 
nend auf die russische Garnison, die noch immer unter General Kuleneff 
in Danzig stand. Seit dem Teilsiter Frieden gefalle sich Alexander in 
„unbedingtem Huldigen des Zeitgeistes“; er werde vielleicht dereinst seinen 
Russen eine Verfassung geben und jedenfalls die orientalischen Pläne seiner 
Vorfahren wieder aufnehmen. Er ist „ein Schüler Napoleon's“"“. Der 
Oberst fühlt indeß, daß sein erschöpfter Staat nicht daran denken darf 
die Russen aus Warschau zu vertreiben: vorderhand müssen wir um 
jeden Preis den Frieden wahren, doch die Zukunft wird uns zwingen 
mit Oesterreich verbündet gegen Rußland zu fechten. 
Erschreckt durch diese düstere Schilderung, ermuthigt durch Hum- 
boldt's hoffnungsvollen Wiener Bericht, beschloß der Staatskanzler sich 
an Oesterreich und England anzuschließen, freilich ohne mit Rußland 
offen zu brechen. In seiner Antwort an Humboldt"“) sprach er diesen 
Entschluß aus und entwickelte zugleich nochmals sowohl die Gebietsan- 
sprüche Preußens als die alten dualistischen Pläne: „Wir brauchen 
Sachsen (il nous faut la Save). Ich würde mir's ewig vorwerfen, wenn 
ich in diesem Punkte nur im Geringsten nachgäbe. Die Anstrengungen 
Preußens haben so wesentlich zur Befreiung Europas beigetragen, daß 
wir berechtigt sind die Berücksichtigung unserer Interessen zu erwarten. 
Der Bund Oesterreichs und Preußens ist so nothwendig für die Erhal- 
tung der Unabhängigkeit Europas; die Staatsmänner, welche den guten 
Gedanken gehabt haben sich von den unglückseligen Vorurtheilen früherer 
Zeiten zu befreien, müssen einsehen, daß die Interessen der beiden Groß- 
mächte zusammenfallen, und daß Oesterreich gar nichts Besseres thun 
  
*) Nach Schöler's Berichten, St. Petersburg, 7. 10. und 12. September 1814. 
*“) Hardenberg an Humboldt 3. September 1814.
	        
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