Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

618 II. 1. Der Wiener Congreß. 
abschreckend gemeine Züge, kalt und ruhig, unfähig jemals zu erröthen 
oder die innere Bewegung zu verrathen. Eine durchaus mephistophelische 
Erscheinung; in Hardenberg's Tagebuch heißt er stets: Talleyrand Bocks- 
fuß. Die Damen lauschten ergötzt, wenn er ihnen mit faunischem Lächeln 
eine zweideutige Bemerkung oder ein boshaftes Witzwort zuwarf; auf die 
Fragen der Diplomaten gab er mit unverwüstlich kaltblütigem Phlegma 
salbungsvolle Antworten. Unsaubere Gewohnheiten, die man bei jedem An- 
deren plebejisch genannt hätte, galten bei ihm als originell; der vornehme 
Herr aus dem uralten Hause des Fürsten von Perigord, das Orakel aller 
Feinschmecker des Welttheils, der gründlichste Kenner der Höfe gab sich 
selber die Gesetze des guten Tons. Er hatte sie alle kommen und gehen 
sehen, die Eintagshelden einer wirrenreichen Zeit; er kannte die Marquis 
des alten Regimes, wie die Redner der Revolution und die Glückskinder 
des Kaiserreichs. Er hatte den kleinen deutschen Souveränen bis in's 
innerste Herz geblickt, als er die Ländervertauschung der rheinbündischen 
Politik besorgte, immer bereit das Gold aus Jedermanns Hand zu neh- 
men, aber auch gutmüthig, ergebenen Freunden gefällig, tiefdurchdrungen 
von der Wahrheit, daß eine Hand die andere waschen muß. So war 
er fast allein von den Zeitgenossen des alten Regimes immer obenauf 
geblieben auf den Speichen des Glücksrades und rühmte sich gern, die 
hinkende Schildkröte sei doch schneller zum Ziele gekommen als der na- 
poleonische Hase. Geschickt wußte er die Meinung zu verbreiten, als ob 
er zu jedem Erfolge Napoleon's geholfen, jeden Mißgriff des Kaisers wider- 
rathen hätte. Er besaß jene gemessene Haltung und sichere Menschen- 
kenntniß, die den hochadlichen Kirchenfürsten des achtzehnten Jahrhunderts 
eigenthümlich war, und galt zudem für eingeweiht in alle persönlichen 
Geheimnisse der vornehmen Welt. Jeder Partei war er dienstbar gewesen; 
in dem berühmten „Wörterbuch der politischen Wetterfahnen“ behauptete 
sein Name unbestritten den ersten Platz. Gleichmüthig wie er einst als 
Bischof für das Heil des freien Frankreichs gebetet, stand er jetzt als Ober- 
kammerherr hinter dem Stuhle des legitimen Königs und schwenkte die 
Oriflamme bei dem Krönungsfeste der Bourbonen; „ich habe stets die 
Erfahrung gemacht," sagte er würdevoll, „daß noch jedes System, von dem 
ich abfiel, bald nachher zusammenbrach.“ Im Grunde des Herzens ist er 
doch immer ein eingefleischter Aristokrat geblieben. Darum wünschte er 
von jeher einen Bund mit den alten Mächten Oesterreich und England, 
denn mit dem stolzen Adel dieser Länder ließ sich's leben; das Regiment 
der russischen Emporkömmlinge und vollends die bürgerlich-soldatische 
Schlichtheit des preußischen Staates war ihm verächtlich. 
Also konnte er zu Wien mit innerem Behagen die Rolle spielen, welche 
ihm durch die Interessen seines Hofes auferlegt wurde. Er trat auf als 
der Wortführer der rechtmäßigsten aller Dynastien, schilderte prahlerisch, 
wenige Monate vor den hundert Tagen, wie unerschütterlich fest die Macht
	        
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