Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

628 II. 1. Der Wiener Congreß. 
ganz Warschau bis zur Prosna, mit Einschluß von Thorn und Krakau, 
als ein selbständiges Königreich dem Czarenhause überlassen werden sollte. 
Zugleich unterstützte er auf das Wärmste die Ansprüche Preußens auf 
Sachsen und verpflichtete sich schon am 28. September durch einen förm— 
lichen Vertrag, die Verwaltung des Landes sofort an Preußen zu übergeben. 
Auch in der deutschen Verfassungsfrage befürwortete er nachdrücklich die 
preußischen Pläne; er verhehlte nicht, wie tief er die Selbstsucht der rhein— 
bündischen Höfe verachtete, und vermied doch klug jede zudringliche Ein— 
mischung. Auch Capodistrias wünschte lebhaft die Befestigung des Deut— 
schen Bundes, und der jüngere Alopeus, Alexander's Gesandter in Berlin, 
war ein feuriger Bewunderer des preußischen Waffenruhms. Kurz, Ruß— 
lands Haltung gegen Preußen blieb durchaus freundschaftlich, obgleich 
Preußen sich noch in keiner Weise verpflichtet hatte die polnischen Absichten 
des Czaren zu unterstützen. Unabweisbar drängt sich die Vermuthung auf, 
daß Hardenberg durch offenes Entgegenkommen auch eine Verständigung 
über Thorn und das Kulmerland, ein unbedingtes Zusammenhalten der 
beiden Mächte erwirken konnte. Er aber blieb auf Metternich's Seite 
und hoffte zunächst, daß auch England und Oesterreich, wie Rußland be- 
reits gethan, in die vorläufige Occupation von Sachsen willigen würden. 
Der König sah der Politik seines Kanzlers nicht ohne Sorgen zu und 
hielt die sofortige Besitznahme von Sachsen für einen voreiligen Schritt, 
da er, minder hoffnungsvoll als Hardenberg, aus dem Verhalten des 
Kaisers Franz den richtigen Schluß zog, daß Oesterreich die Vertreibung 
der Albertiner schwerlich billigen würde. Hätte man die Occupation ein 
Jahr vorher, gleich nach der Leipziger Schlacht durchsetzen können, so 
wäre sie ein wirksames Mittel gewesen um die gänzliche Einverleibung 
vorzubereiten. Wie jetzt die Dinge standen, unmittelbar vor der Ent- 
scheidung des Congresses, brachte die Besitznahme keinen Vortheil mehr, 
sie setzte den Staat nur der Gefahr einer Demüthigung aus, falls er 
nicht im Stande war das occupirte Land ganz zu behaupten. Deshalb 
widersprach der König. Er traute jedoch seinem eigenen Verstande zu 
wenig, am wenigsten in diplomatischen Fragen, ließ widerwillig den Kanzler 
schalten und meinte nachher, als Hardenberg's Pläne scheiterten, ärgerlich 
nach seiner Weise: „Hab's immer gesagt, haben aber Alle klüger sein 
wollen.“ Nür die von Hardenberg vorgeschlagene Ernennung des Prinzen 
Wilhelm zum Statthalter von Sachsen gab er schlechterdings nicht zu; 
er wollte mindestens die Personen des königlichen Hauses vor einer be- 
schämenden Niederlage bewahren. 
Mit unbeirrtem Selbstgefühle blickte der Staatskanzler über die 
verständigen Bedenken seines königlichen Herrn hinweg, schrieb verächtlich 
in sein Tagebuch: „jurat in verba des Kaisers von Rußland““) und 
  
*) Hardenberg's Tagebuch, 1. October 1814.
	        
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