712 II. 1. Der Wiener Congreß.
Machthaber zu glauben. Wie sonderbar nahm sich neben den unbestimm-
ten Phrasen über Preßfreiheit, Handelsfreiheit, Landstände die genaue
Aufzählung der Privilegien der Mediatisirten und der Thurn= und Taxis-
schen Postrechte aus. Und zu Alledem das Kläglichste: die Bundesacte
war gar keine Verfassung, sondern enthielt nur die damals ausgeführten
Grundzüge eines künftigen Bundesrechts. Vier Jahre später schrieb der
ehrliche Gagern nicht ohne Reue einem conservativen Freunde: „Sie reden
von der Erhaltung des Bestehenden. Ich suche vergeblich den Bestand.
Ich sehe eine Bundesacte, die wir zu entwickeln zu Wien uns erst vor-
nahmen!“
In den Gebietshändeln hatten Preußens Staatsmänner, durch die
Festigkeit ihres Königs, doch einen halben Erfolg erreicht. In den Bundes-
verhandlungen wurden sie auf's Haupt geschlagen; nichts, gar nichts von
ihren Absichten hatten sie durchgesetzt. Aber der Schild preußischer Ehre
war ohne Makel geblieben. Die Haltung des Staates, der uns von
den Fremden befreit, gereichte noch in Wien allen anderen Deutschen
zur Beschämung — wenn in einem solchen harten Interessenkampfe die
Scham überhaupt Raum fände. Zäh und redlich, consequenter als Stein
hatten Hardenberg und Humboldt einen bestimmten Plan eingehalten,
immer nur Schritt für Schritt zurückweichend vor dem vereinten Wider-
stande nahezu des gesammten Deutschlands, einen Plan, der freilich auch
an der allgemeinen politischen Unklarheit der Epoche krankte, aber jeden-
falls ehrenhafter und verständiger war als alle anderen Wiener Vorschläge.
Die beständig wechselnde Form ihrer Entwürfe war nicht ihre Schuld,
sondern ergab sich unvermeidlich aus der Bedrängniß eines aussichtslosen
Streites wider Gegner, die nicht durch das Wort, sondern allein durch
den Schlag überzeugt werden konnten. Das Einzige, was den Beiden
zur Last fiel, war das arglose Vertrauen zu den falschen Freunden Oester-
reich und Hannover. Aber selbst ein vollkommener Staatsmann, der von
solcher Schwäche frei blieb, konnte in diesem Kriege nicht siegen. Der ge-
sammte Gang der deutschen Schicksale während der jüngsten Jahre führte
unabwendbar zu der traurigen und doch nothwendigen Folge, daß nach
Napoleon's Fall nicht sein tapferer Feind Preußen, sondern sein schwan-
kender Gegner Oesterreich und dessen Bundesgenossen, die Rheinbündner
über die Gestaltung unseres Staates entschieden.
Selbst der Czar äußerte seinen Unwillen über den kläglichen Aus-
gang, und sogar Gentz hatte ein so lächerliches Machwerk doch nicht er-
wartet. Gleichwohl besaß die neue Ordnung der deutschen Dinge drei
folgenschwere Vorzüge. Die welthistorischen Wirkungen der Fürstenrevo-
lution von 1803 blieben unverändert, das fratzenhafte theokratische Wesen
kehrte nicht wieder; das neue Deutschland athmete in der gesunden Luft
weltlichen Staatslebens. Sodann ward durch die Bundesverfassung die
Entstehung eines neuen Rheinbundes zwar keineswegs verhindert aber