Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Schlachtfeld von Belle Alliance. 753 
Centrum bei Mont St. Jean; hier unter einer Ulme, auf einer Boden— 
welle neben der Landstraße konnte er fast die ganze Aufstellung über— 
blicken und nach seiner Gewohnheit Alles unmittelbar leiten. Einige 
hundert Schritt vor der Front lagen wie die Vorwerke einer Festung drei 
stark besetzte Positionen: vor der Rechten das Schloß Goumont inmitten 
der alten Bäume seines Parkes, von hohen Mauern unschlossen; vor 
dem Centrum an der Landstraße das Gehöfte La Haye Sainte; vor dem 
äußersten linken Flügel die weißen Häusergruppen von Papelotte und La 
Haye. Die Straße fällt südlich von Mont St. Jean sanft ab, führt dann 
völlig eben durch offene Felder und steigt eine starke halbe Stunde weiter 
südlich, nahe bei dem Pachthofe La Belle Alliance wieder zu einem anderen 
niederen Höhenzuge empor, so daß das Schlachtfeld eine weite, mäßig ein- 
getiefte Mulde bildet, die allen Waffen den freiesten Spielraum gewährt. 
Auf diesen Höhen bei Belle Alliance stellte Napoleon sein Heer auf, 
Reille zur Linken, Erlon zur Rechten der Straße, dahinter bei Rossomme 
die Reserve; sein Plan war einfach durch einen oder mehrere Frontal- 
angriffe die Linien der Engländer zu durchbrechen, wo möglich an der 
schwächsten Stelle, auf ihrem linken Flügel. Da die unsicheren Feuer- 
waffen jener Zeit dem Angreifer erlaubten mit ungebrochener Kraft nahe 
an den Vertheidiger heranzugelangen, so hoffte der Imperator durch 
ungeheure Massenschläge den zähen Gegner niederzuringen. Seine 
Kriegsweise war während der letzten Jahre immer gewaltsamer geworden; 
heute vollends, in der fieberischen Leidenschaft des verzweifelten Spielers 
zeigte er die ganze Wildheit des Jacobiners, ballte viele Tausende seiner 
Reiter, ganze Divisionen des Fußvolks zu einer einzigen Masse zusammen, 
damit sie wie die Phalangen Alexander's mit ihrem Elephantentritt Alles 
zermalmten. So begann die Schlacht — ein beständiges Vordringen und 
Zurückfluthen der Angreifer gleich der Brandung am steilen Strande — 
bis dann das Erscheinen der Preußen in Napoleon's Rücken und rechter 
Flanke den Schlachtplan des Imperators völlig umstieß. Der Kampf 
verlief wie eine planvoll gebaute Tragödie: zu Anfang eine einfache Ver- 
wicklung, dann gewaltige Spannung und Steigerung, zuletzt das Herein- 
brechen des Alles zermalmenden Schicksals; unter allen Schlachten der 
modernen Geschichte zeigt wohl nur die von Königgrätz in gleichem Maße 
den Charakter eines vollendeten Kunstwerks. Der letzte Ausgang hinter- 
ließ in der Welt darum den Eindruck einer überzeugenden, unabwend- 
baren Nothwendigkeit, weil ein wunderbares Geschick jeder der drei Na- 
tionen und jedem der Feldherren genau die Rolle zugewiesen hatte, 
welche der eigensten Kraft ihres Charakters entsprach: die Briten bewährten 
in der Vertheidigung ihre kaltblütige, eiserne Ausdauer, die Franzosen 
als Angreifer ihren ritterlichen, unbändigen Muth, die Preußen endlich 
die gleiche stürmische Verwegenheit im Angriff und dazu, was am schwersten 
wiegt, die Selbstverleugnung des begeisterten Willens. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 48
	        
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