Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

224 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates. 
die Erkenntnisse nicht geheim; dem alten deutschen Satze „und wo Ge- 
richte ist da sollen di bestin sin“ werde in Preußen, wo man die Richter so 
sorgfältig wähle, vollständiger genügt als in Frankreich; in jeder Tatfrage 
sei zugleich eine Rechtsfrage enthalten, die nur der Rechtsgelehrte ganz 
verstehe; nimmermehr dürfe dem Richter gestattet werden, die Gesetze will- 
kürlich abzuschwächen falls sie der Meinung des Volks zu widersprechen 
schienen; und wie könne der Staat auf das Recht verzichten, einen Ange- 
klagten bei unvollständigem Beweise mit außerordentlichen Strafen zu be- 
legen?") Alle die berechtigten und unberechtigten technischen Bedenken 
gegen das Schwurgericht, welche in der alten, an bestimmte Beweisregeln 
gewöhnten Juristenschule vorherrschten, stellte der Minister sorgfältig zu- 
sammen. Politische Besorgnisse hegte er nicht; denn noch war die Jury 
nicht in das Programm der liberalen Parteien ausgenommen. 
Beyme aber trat auf die Seite der Kommission und gewann die Zu- 
stimmung des Königs. Das französische Recht blieb auf dem linken Rhein- 
fer und in Berg vorläufig bestehen, und am 21. Juni 1819 ward in 
Berlin ein Kassationshof für die rheinischen Lande unter Sethes Vorsitz 
gebildet. An die Spitze des Appellhofes zu Köln trat der als Richter wie 
als Gelehrter gleich ausgezeichnete Daniels. Jedermann am Rhein wußte 
von dem geistreichen Manne mit dem Sokrateskopfe, von seinem unge- 
heuren Gedächtnis und seinem ulpianischen Scharfsinn zu erzählen. In 
ihm verkörperte sich jene eigentümliche Vermittlerrolle zwischen deutscher 
und französischer Bildung, welche die Rheinländer damals noch für sich 
in Anspruch nahmen. Die Franzosen selbst bewunderten ihn als den gründ- 
lichsten Kenner ihrer Gesetzbücher, und doch blieb er ein deutscher Jurist, 
denn wer sich in dem Labyrinthe des alten kurkölnischen Rechts zurechtfinden 
wollte, griff zu Daniels vergilbten Kollegienheften. Unter seiner Leitung 
wuchs allmählich der moderne rheinische Juristenstand heran, reich an Talen- 
ten, stolz auf sein heimisches Recht und auf die Kunst der forensischen Be- 
redsamkeit, die hier allein eine Bühne fand, aber auch sehr empfänglich für 
die formale Staatsweisheit der Franzosen, ohne Sinn für die berechtigte 
Eigenart des deutschen Nordostens — eine ganz neue Kraft im preußischen 
Staatsleben, deren Macht mit den Jahren stieg seit der Liberalismus an- 
fing die Schwurgerichte als ein Palladium der Volksfreiheit zu feiern. — 
Uber allen den anderen drängenden Sorgen der preußischen Politik 
stand die Frage, ob das vermessene Wagnis einer hochbegeisterten kriege- 
rischen Zeit, das Wehrgesetz von 1814, jetzt in den Tagen der Abspannung 
und der Armut die Probe bestehen würde. Die große Mehrzahl der Gene- 
rale hielt an den Gedanken Scharnhorsts und Boyens unerschütterlich fest. 
Gneisenau vornehmlich ward nicht müde die Landwehr als die „Heil-Anstalt" 
  
*) Kircheisen, Votum betr. die Organisation der Justiz in den Rheinprovinzen, 
Juli 1818.
	        
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