Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

274 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates. 
bezirke zählte man nur 102 Grundeigentümer mit mehr als 300 Morgen 
Besitz, im Aachener nur 80, im Düsseldorfer nur einen einzigen. Von 
den alten landtagsfähigen Geschlechtern waren in Berg noch 24, in Cleve 
gar nur fünf, darunter bloß zwei begüterte, übrig. Ein scharfer Unter— 
schied von Stadt und Land, von Grundherren, Bürgern und Bauern be— 
stand nicht mehr, und diese radikale Zerstörung der alten ständischen Glie— 
derung war eine unwiderrufliche Tatsache, denn hier an Deutschlands 
belebtester Handelsstraße war städtisches Wesen schon im Mittelalter auf 
das flache Land hinausgedrungen, die Revolution vollendete hier nur mit 
einem Gewaltstreiche, was durch die intensive Wirtschaft der dichten 
Bevölkerung längst vorbereitet war. Die wenigen Ritterbürtigen, welche 
den Untergang der rheinischen Adelsmacht überlebt hatten, die Wylich, 
Mirbach, Spee, Nesselrode konnten sich in den Umschwung der Dinge nicht 
finden; sie erwarteten von den Befreiern die Wiederkehr der guten alten 
Zeit und verlangten sofort im Namen deutschen Rechts und deutscher 
Ehre die Herstellung der Zehnten, der Jagdrechte, der Fideikommisse. Die 
Beamten aber, die eingebornen wie die altländischen, warnten den Staats- 
kanzler; denn sie wußten, daß der Gedanke der sozialen Gleichheit den 
Rheinländern der teuerste aller politischen Grundsätze war; und wäh- 
rend Vincke auf Grund seiner westfälischen Erfahrungen die gebundene 
Erbfolge verteidigte, erklärten die rheinischen Präsidenten und Landräte 
wie aus einem Munde: auf der freien Teilbarkeit des Bodens beruhe 
die wirtschaftliche Blüte des Rheinlandes.) Daher wurden die Ritter- 
bürtigen höflich abgewiesen, und seit dieser Enttäuschung begannen sie dem 
preußischen Staate zu grollen; nur die von altersher durch Bildung und 
freien Sinn ausgezeichneten Fürstenhäuser von Wied und Solms traten 
zu der Krone in ein würdiges Verhältnis. Das Volk aber ließ sich's nicht 
ausreden, daß der Preuße mit dem Adel unter einer Decke liege. Vier 
Jahre nach der Huldigung schilderte Solms-Laubach die Gesinnungen der 
Provinz also: So lange nicht das Unmögliche geschieht kann eine voll- 
kommen gute Stimmung nicht bewirkt werden: wenn nicht der Adel seine 
Zehnten zurückerhält, der Bauer aber nicht mehr zehntet.) 
Trotz alledem verwuchs dies bunte, aus altgeistlichem und neufran- 
zösischem Wesen so eigentümlich gemischte landschaftliche Sonderleben un- 
merklich und sicher mit dem neuen Staate. Von den beiden Oberpräsi- 
denten hatte der eine, Minister von Ingersleben in Koblenz, während des 
Krieges an der Spitze der pommerschen Verwaltung gestanden und die 
Rüstung der Landwehr mit Umsicht geleitet; den Rheinländern gefiel der 
alte Herr durch Wohlwollen und gastfreundliche Heiterkeit. Der andere, 
*) Freiherr v. Wylich an Hardenberg, 16. Febr., an Schuckmann, 15. Mai 1816. 
Berichte vom Reg.-Präsidenten v. Schmitz-Grollenburg, Koblenz 9. Okt., Reg.-Präsidenten 
v. Erdmannsdorff, Cleve 31. Okt. 1817, Landrat Bitter, Hartung u. a. 
*) Solms-Laubach, Bericht an Prinz Wilhelm, 18. August 1819. 
 
	        
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