344 II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
lischer Gebiete gelangt und standen den neuen Aufgaben, die sich hier
ergaben, noch ziemlich ratlos gegenüber. Sie wußten wohl, daß die
altprotestantische Kirchengewalt der Landesherren unter den neuen Ver-
hältnissen sich nicht mehr halten ließ, und waren ehrlich gewillt der römi-
schen Kirche etwas größere Freiheit als bisher zu gewähren; jedoch sie
hegten noch immer sehr überspannte Begriffe von den Rechten der Staats-
gewalt, eine Selbsttäuschung, welche Hardenberg nicht teilte. Daher er-
hielt Niebuhr schon von Paris aus die Weisung, daß er bestimmt sei für
Preußen allein mit Rom zu verhandeln und vor allem die Wiederher-
stellung der unentbehrlichen Landesbistümer herbeizuführen.
Nur Heinrich von Wessenberg gab den Gedanken einer deutschen
Nationalkirche, den er auf dem Wiener Kongreß so nachdrücklich vertreten
hatte, auch jetzt noch nicht auf. Bei den Höfen galt der vielgeschäftige
Konstanzer Generalvikar zugleich als ein willkommener Bundesgenosse
und als ein lästiger Störenfried; denn sie wünschten gleich ihm die Macht
des Papstes über die deutschen Prälaten möglichst zu beschränken, aber
der Kern seiner Pläne konnte nüchternen Staatsmännern nur als ein
unmöglicher Anachronismus erscheinen. Wessenberg verkannte, wie gründlich
der politische Charakter der katholischen Kirche Deutschlands durch die
Sekularisationen und die Beseitigung der adligen Pfründen sich verändert
hatte. Er träumte von einem deutschen Kirchenstaate, der unter dem
Schutze des Bundes, geleitet von einem Fürsten-Primas, wohlausgerüstet
mit adligen Prälaten, National= und Diözesan-Synoden, dem Papst-
tum wie den Landesherren gleich unabhängig gegenüberstehen sollte. Und
diese aristokratische Kirchenverfassung nannte er mit naiver Anmaßung
„die deutsche Kirche", obgleich die große Mehrheit der Deutschen außer-
halb Osterreichs dem Protestantismus angehörte. Von Landesbistümern,
deren die moderne Staatseinheit doch nicht entraten konnte, wollte er
nichts hören; seine vornehmen Bischöfe sollten in mehreren Staatsgebieten
zugleich ihre geistliche Gewalt ausüben. Welch eine Aussicht auf ewigen
Streit zwischen dem Papste, dem Primas, dem Bundestage, den Einzel-
staaten und diesen halbsouveränen, keiner Landeshoheit ausschließlich unter-
worfenen Bischöfen!
Und woher sollte ein deutscher Primas jetzt noch die seiner Würde
unentbehrliche landesfürstliche Selbständigkeit gewinnen? Dalberg selbst,
der Fürstprimas des Rheinbunds, hatte den patriotischen Entwürfen
seines Freundes Wessenberg bereits den Boden unter den Füßen hinweg-
gezogen, als er im Oktober 1813 zu gunsten Eugen Beauharnais“ auf
das Großherzogtum Frankfurt verzichtete. Der Unwille der Verbün-
deten wider den bonapartistischen Kirchenfürsten ward durch diesen schimpf-
lichen politischen Selbstmord nur verstärkt und milderte sich auch nicht
als der wetterwendische Enthusiast schon im nächsten Jahre wieder um-
schlug und dem rächenden Erzengel Europas, dem Zaren Alexander