356 II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
alten Zufallsstaaten zu einem neuen, der aus dem Nichts entstand, zu—
sammenballte, da ward dies Land die natürliche Heimat eines staat—
und geschichtslosen Liberalismus, der sich das politische wie das kirchliche
Leben schnellfertig nach den untrüglichen Grundsätzen des sogenannten
Vernunftrechts zurecht legte und durch die aufregende Nachbarschaft Frank—
reichs und der Schweiz zu immer kühneren Forderungen ermutigt wurde.
Wohl hatten sich auf den geschlossenen großen Bauernhöfen des
Schwarzwalds noch manche altväterische Sitten und Trachten erhalten;
weniger freilich als nahebei im Elsaß, wo die Fremdherrschaft das Volk
von der neuen deutschen Bildung absperrte. Auch die streng kirchliche
Gesinnung behauptete sich noch in einigen Schlupfwinkeln. Einzelne alt—
lutherische Gemeinden saßen da und dort zerstreut, vornehmlich bei Pforz—
heim; ein Teil der Seeschwaben blieb immer klerikal; die Franken aus
den entlegenen Tälern des hinteren Odenwaldes wallfahrteten fleißig
zum heiligen Blut nach Walldürn und standen in ihrem katholischen
Glaubenseifer kaum hinter den Münsterländern zurück, denn wie in
Westfalen die Wiedertäufer, so hatten hier im malerischen Taubergrunde
die Mordbanden des Bauernkrieges ihre blutige Spur zurückgelassen, das
Bauernschlachtfeld von Königshofen und die schändlich verstümmelte Herr-
gottskirche von Creglingen erzählten noch von den Saturnalien der lu-
therischen Gecken. Aber die vorherrschende Gesinnung des Landes war
durchaus modern, städtisch, weltlich aufgeklärt. Im Breisgau und den
anderen vorderösterreichischen Gebieten schlugen die kirchlichen und politi-
schen Grundsätze Josephs II. weit tiefere Wurzeln als in den östlichen
Kronlanden des Hauses Lothringen; der philosophische Kaiser ward hier
allgemein als das Fürstenideal gefeiert. Die Pfälzer andererseits wollten
nach allen den gräßlichen Glaubenskriegen, die ihre schöne Heimat ver-
wüstet, nun endlich des konfessionellen Friedens genießen, und er war
nirgends unentbehrlicher als hier wo fast in jedem Städtchen eine Simul-
tankirche stand; sie rühmten sich ihres Karl Ludwig, des duldsamen Kur-
fürsten, der in Mannheim die Friedenskirche für alle drei Bekenntnisse er-
richtet hatte. In Heidelberg gaben Paulus und Voß, in Freiburg Rotteck den
Ton an. Der protestantische Rationalismus des Unterlandes reichte dem
josephinischen Katholizismus des Oberlandes die Hand, und was die Köpfe
der gebildeten Klassen erfüllte drang tief in die Masse des Volkes hinab;
denn die ungebundene oberrheinische Lebenslust ließ eine so scharfe Tren-
nung der Stände, wie sie im Norden noch bestand, nicht aufkommen;
in den zahllosen kleinen Städten fand sich überall ein behagliches Wirts-
haus, wo der Bauer am Markttag mit den studierten Leuten verkehrte.
Es war kein Zufall, daß gerade in diesem Lande der demokrati-
schen Sitten die ersten wirklichen Volksbücher unserer neuen Literatur er-
schienen. Seit dem Verfasser des Simplizissimus, Grimmelshausen, hatte
der Oberrhein keinen bedeutenden Dichter mehr gesehen; jetzt freute sich