360 II. 6. Süddeutsche Verfassungskämpfe.
Landstraße konnte der Wanderer die numerierten Obstbäume bewundern,
und am Eingange eines breiten Feldwegs begrüßte ihn zuweilen die In—
schrift: „Dieser Weg ist erlaubt.“ An bestimmten Terminen hielt der Amt—
mann den berüchtigten „Unzuchtstag“ zur Abstrafung aller der Schwanger—
schaft verdächtigen Mädchen, und für die abgeschaffte Tortur wußte er sich
genügenden Ersatz zu schaffen, indem er jeden Angeklagten, der im Verhör
eine Unwahrheit sagte, von Rechtswegen ausprügeln ließ. Und bei all
ihrer Vielgeschäftigkeit zeigten sich diese kleinen Despoten gewissenlos,
saumselig im Dienst, seit sie das Auge „des Herrn“ — so hieß der Groß-
herzog schlechtweg — nicht mehr zu fürchten hatten. Die Finanzen ge-
rieten bald in arge Bedrängnis, durch die Kriegsnöte und durch die
Schuld der leichtfertigen Verwaltung; für das Jahr 1816 berechnete man
ein Defizit von 1,1 Mill. Fl. In den letzten Jahren des napoleonischen
Zeitalters wurde durch zwei treffliche junge Finanzmänner, Böckh und
Nebenius, ein gleichmäßiges Steuersystem eingeführt, das sich späterhin
gut bewährte und im wesentlichen noch heute besteht; doch Jahre ver-
gingen, bis sich das Volk an die neuen Lasten gewöhnte. Die Mißstim-
mung stieg unaufhaltsam; überall erklang der Ruf: nur ein Landtag
könne den Sultanismus dieses Beamtentums noch in Schranken halten.
Den Mediatisierten und den Reichsrittern war sogar die grundherrliche
Gerichtsbarkeit, den Verheißungen der Rheinbundsakte zuwider, genom-
men worden; sie äußerten ihren Groll mit der höchsten Erbitterung und
verhehlten nicht, daß sie an die Zukunft dieses Staates von gestern nicht
mehr glaubten. Das Werk Karl Friedrichs krachte in allen Fugen, und
zu den inneren Nöten gesellte sich noch die Bedrängnis von außen:
die Begehrlichkeit der Wittelsbacher. Sie mußte den Großherzog um so
tiefer verletzen, da König Max Joseph seine pfälzischen Pläne immer nur
den großen Mächten vortrug und den Schwager in Karlsruhe nicht ein-
mal einer Nachricht würdigte.
Der Münchener Hof stützte seine vorgeblichen Ansprüche nicht bloß
auf die Versprechungen des Rieder Vertrags, sondern auch auf die Be-
hauptung, daß die Dynastie der Zähringer dem Erlöschen nahe sei. Mark-
graf Karl Friedrich hatte nämlich im hohen Alter eine zweite Heirat
mit der Freiin von Geyersberg, die er zur Gräfin von Hochberg erhob,
geschlossen und gleich bei der Hochzeit den Sprößlingen dieser Ehe das
Thronfolgerecht ausdrücklich vorbehalten für den Fall des Aussterbens
seiner übrigen Nachkommen. Da die sämtlichen Agnaten diesen Vor-
behalt anerkannten und andere Anwärter nicht vorhanden waren, so
ließ sich der Anspruch der Grafen von Hochberg auf die Thronfolge
nicht bestreiten; überdies war das Haus Baden seit dem Untergange
des Reichs souverän und mithin befugt seine Hausgesetze selbständig zu
ordnen. Aber das Kapitel von der Ebenbürtigkeit gehört bekanntlich zu den
jedem menschlichen Scharfsinne unlösbaren Kontroversen, woran das