Varnhagen v. Ense. 371
den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt „als
ein unangemessenes, im besten Falle überflüssiges Vortreten, bei welchem
man nichts anders als eine Zurückweisung erwarten kann.“ Gleich nach—
her brach er das Amtsgeheimnis und sendete den tadelnswerten Brief
an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; fast die gesamte Presse
sprach sich für das gute Recht Badens aus, selbst die Augsburger Allge—
meine Zeitung nahm Partei gegen Bayern, da der kluge Cotta die Gunst
des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun schrieb
Varnhagen unschuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes Auf—
sehen, der Erfolg scheine aber dem badischen Hofe günstig; „die Beru—
fung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs neigt
deren Gunst mit Macht auf die Seite, wo sie sich geschmeichelt fühlt.““)
Sollte diese Gunst der öffentlichen Meinung der badischen Sache
erhalten bleiben, so mußte man entschlossen in das Fahrwasser der kon—
stitutionellen Politik einlenken. Reizenstein täuschte sich nicht darüber;
er sah auch ein, daß die Verkündigung der Verfassung das einzige Mittel
war um dem murrenden Volke wieder Vertrauen auf die Zukunft des
Staates einzuflößen und zugleich dem Hause Zähringen die Gnade des
Kaisers Alexander wiederzugewinnen. Der Zar zeigte sich sehr kühl
gegen das Recht seiner badischen Vettern; er war es sogar der auf dem
Wiener Kongresse den unglücklichen Gedanken des Rückfalls der Pfalz
zuerst angeregt hatte — so versicherte wenigstens Wrede dem General
Zastrow.“') Von München aus ward nichts versäumt um den russischen
Gönner bei guter Stimmung zu halten; der Gesandte Graf Bray legte
alle die neuen Verfassungsgesetze, die für Bayern geplant wurden, dem
Zaren zur Genehmigung vor, und diesem war niemals ein Vorschlag
freisinnig genug. *) Die christlich-liberale Begeisterung des Selbstherrschers
erreichte eben in diesen Tagen ihren Siedepunkt. Für die besorgten Briefe
Metternichs, der seinem Freunde Nesselrode beständig „die schwere Krank-
heit Europas“ schilderte, hatte Alexander nur ein überlegenes Lächeln;
wie viel stolzer klang es doch, wenn der bewegliche Kapodistrias, jetzt sein
nächster Vertrauter, in feuriger Rede den Kernsatz ausführte: „Institu-
tionen sind die große Forderung des Jahrhunderts!“ Am 27. März 1818
eröffnete der Kaiser den ersten Reichstag des neuen Königreichs Polen
mit einer schwungvollen Thronrede, die in ganz Europa mächtig wider-
hallte. Sie forderte die Polen auf, den Zeitgenossen zu beweisen, daß
die liberalen Institutionen mit der Ordnung vereint das wahre Glück der
Völker begründen, und versprach den Russen, auch sie sollten in einiger
Zeit des gleichen Glückes teilhaftig werden.
*) Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818.
*) Zastrows Bericht, München 2. Nov. 1818.
*“*) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. August 1818.
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