Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Fichte und Jahn. 385 
graut war, hing ungekämmt auf die Schultern hernieder; der Hals war 
entblößt — denn das krechtische Halstuch ziemte dem freien Deutschen 
so wenig wie die weichliche Weste; ein breiter Hemdkragen überdeckte den 
niedrigen Stehkragen des schmutzigen Rockes. Und diesen fragwürdigen 
Anzug pries er wohlgefällig als die wahre altdeutsche Tracht. Welch ein 
Fest, als die Osterreicher eines Tages die ehernen Rosse des Lysippos 
von dem Triumphbogen des Karussellplatzes herabnahmen um sie nach 
Venedig zurückzuführen; mit einem Male stand der riesige Recke neben 
dem Erzbilde der Viktoria droben auf dem Bogen, hielt den deutschen 
Soldaten eine donnernde Rede und schlug der Siegesgöttin mit wuch- 
tigen Fäusten auf ihren verlogenen Mund und ihre prahlerische Trompete. 
Seitdem kannte ihn die ganze Stadt; das Herz lachte ihm im Leibe, so 
oft ihn die Pariser mit feindseligen Blicken maßen und einander zu- 
flüsterten: Le voilädl Celui-ci! 
Nach der Heimkehr eröffnete er wieder seine Turnschule: „Frisch, frei, 
fröhlich, fromm ist der Turngemein Willkomm!“ In hellen Haufen eilte 
die Berliner Jugend auf den Turnplatz in der Hasenhaide und zu der 
Schwimmschule des Obersten Pfuel am Oberbaum. Von den Studenten 
kam freilich nur ein Teil, den meisten ging es wider die Ehre, daß 
unter den Turnern vollkommene Gleichheit herrschen und man sich mit 
den Gnoten duzen sollte; auch bei den niederen Klassen fand die neue 
Kunst zunächst nur wenig Anklang, denn wer beständig mit dem Körper 
arbeitet, glaubt der Schulung des Leibes nicht erst zu bedürfen. Um so 
eifriger beteiligte sich das kleine Volk aus der Plamannschen Lehranstalt, 
wo Jahn einst Lehrer gewesen, aus den Gymnasien und den anderen 
Schulen der höheren Stände. Diese jungen Teutonen hatten dem hei- 
ligen Kriege fern bleiben müssen und brannten vor Begier, jetzt das Ver- 
säumte nachzuholen, durch trutzigen Mut und rüstige Fäuste ihre Deutsch- 
heit zu erweisen; ihre Augen leuchteten, wenn ihnen Jahn in seinen 
wunderlichen Stabreimen das Bild des echten Turners schilderte: „Tu- 
gendsam und tüchtig, keusch und kühn, rein und ringfertig, wehrhaft und 
wahrhaft!“ Sie ließen sich's nicht zweimal sagen, daß sie nicht „als 
müßige Eckner mit dem Bahgesichte“ dastehen dürften, wie die gründlich ver- 
achteten „Kuchenbäcker“ dort, die Bürger, die vom Grenzgraben der Hasen- 
haide den Kraftproben der Jugend verwundert zuschauten. „Nicht Quaas 
und Fraß“", meinte Jahn, „Leben und Weben soll beim Volksfeste vor- 
walten;" und wie lebte und webte es auf dem Turnplatze, wenn die 
Jungen, allesamt in grauen Jacken von ungebleichter Leinwand, mit 
nacktem Halse und langem Haar gleich dem Meister, ihre unerhörten 
Künste übten: den Kiebitzlauf und den Bratenwender, das Kippen und 
das Wippen, das Nest und den Schwebehang, die Affen-, Frosch- und 
Karpfensprünge, die Bein-, Bauch= und Rückenwellen und die Krone von 
allem, die Riesenwelle. Entzückt rühmte das Turnlied: 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 25
	        
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