Der Breslauer Turnstreit. 393
Rechenaufgabe, die ein gesinnungstüchtiger teutonischer Lehrer aufgebracht
hatte: wenn ein fürstlicher Hof zwei Millionen Taler kostet, wie viel kosten
dreiunddreißig? Manche der schönen Lieder des Befreiungskrieges erhielten
jetzt im Frieden einen anderen Sinn; der Volkszorn, den sie aufriefen,
wendete sich, nun der fremde Zwingherr gestürzt war, unwillkürlich wider
die heimischen Feinde; und bald tauchten neue Gesänge auf, welche offen
den Kampf der freien Turnerschaft gegen die Kronen verherrlichten:
Noch ficht mit der Wahrheit gekrönter Wahn,
Noch kämpft mit dem Teufel die Tugend
Der Freiheit Wiege, dein Sarg, Drängerei,
Wird gezimmert aus dem Baume der Turnerei!
So ward der lautere Enthusiasmus der Jugend für die Einheit des
Vaterlandes nach und nach durch radikale Phrasen getrübt. Für die
bürgerliche Ordnung stand von solchem Wortschwall wenig zu fürchten;
aber die Rechtschaffenheit des heranwachsenden Geschlechts ward gefährdet,
wenn das junge Volk also in hochmütigen Drohungen zu schwelgen be-
gann und ganz verlernte, daß Worte einen Sinn haben.
Den streng militärischen Anschauungen des Königs war die Roheit
der Turner von Haus aus verhaßt. Hardenberg dagegen, dankbar und
wohlwollend wie er war, vergaß der Verdienste nicht, die sich Jahn in
der Zeit der geheimen Rüstungen erworben hatte, und behandelte seine
Schrullen mit großer Nachsicht. Eine freundliche Verwarnung konnte er
ihm freilich nicht ersparen, als ein Hausvater, der seine Tochter fran-
zösisch lernen ließ, sich über Jahns Schmähungen beschwerte. Die Wie-
derholung jener öffentlichen Vorlesungen wurde untersagt; im übrigen
blieb Jahn unbelästigt und bezog Gehalt aus der Staatskasse. Auch
Altenstein erkannte den Nutzen der Turnübungen unbefangen an und be-
schäftigte sich mit dem Plane ihrer Einführung in die Schulen. Beide
Staatsmänner waren bereit, dem Turnvater eine Versorgung, etwa als
Landwirt, zu verschaffen; nur für das akademische Amt eines Lektors
der deutschen Sprache, das er sich wünschte, fanden sie ihn nicht befähigt.)
Der erste ernste Angriff auf die Turnerschaft ging von literarischen
Kreisen aus. Nach dem Berliner Vorbilde wurden zuerst in Breslau, dann
in vielen anderen Städten Turnplätze eingerichtet; Jahns Buch über die
deutsche Turnkunst, das er mit seinem Schüler Eiselen herausgab, diente
beim Unterricht überall als Leitfaden. Da erhob Steffens seine warnende
Stimme gegen die Ausartung der Turnerei, zuerst 1817 in dem Buche:
„Die gegenwärtige Zeit und wie sie geworden“, nachher in den „Karikaturen
des Heiligsten“ und anderen Schriften, und nun begann unter allgemeiner
Teilnahme der große Breslauer Turnstreit, einer jener mehr literari-
schen als politischen Kämpfe, in denen sich die patriotische Leidenschaft
*) Hardenberg an Altenstein, 8. Dez. 1817. Altensteins Antwort, 19. Jan. 1818.