Thüringen. 395
möglich bewahrte er seine wohlwollende Haltung; erst als das lärmende
Treiben der akademischen Jugend die Reaktion entfesselt hatte, brach die
Verfolgung auch über die Turnplätze herein. —
Die Turnerei ging von Berlin aus, die Wiege der Burschenschaft
stand in Thüringen. Und wo hätte auch dieser romantische Studenten-
staat so zuversichtlich, so selbstgefällig, so ganz unbekümmert um die harten
Tatsachen der Wirklichkeit sein naives Traumleben führen können, wie
hier inmitten der gemütlichen Anarchie eines patriarchalischen Völkchens,
das den Ernst des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheils-
mächten, welche unserem Volke den Weg zur staatlichen Größe erschwerten,
steht die durchaus unpolitische Geschichte dieser Mitte Deutschlands viel-
leicht obenan. Fast alle anderen deutschen Stämme nahmen doch irgend
einmal einen Anlauf nach dem Ziele politischer Macht, die Thüringer
niemals. Unsere Kultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar
nichts. Schon in den ältesten Zeiten vermochten sie nicht sich ein eigenes
Stammesherzogtum zu erhalten. Späterhin unter der Herrschaft seiner
Landgrafen errang sich Thüringen zum ersten Male einen glänzenden
Platz in dem geistigen Leben der Nation, nicht durch die Fülle seiner
eigenen Talente, sondern durch eine weitherzige, verständnisvolle Gast-
freundschaft, wie sie der zentralen Lage des Landes entsprach. Frau
Aventiure hielt auf der Wartburg ihren heiteren Hof, und die ritterlichen
Sänger aus allen Gauen des Reichs warben mit dem Wohllaut ihrer
Reime um die Gunst Hermanns des Milden. Aber an den großen
Machtkämpfen jener staufischen Zeiten nahm das liederfrohe Land nur
geringen Anteil. Auch als nachher die Wettiner die Herrschaft antraten,
blieb Thüringen immer ein Nebenland; der sächsische Rautenkranz ver-
drängte den alten gestreiften Landgrafenlöwen. Der politische Schwerpunkt
der wettinischen Hausmacht lag in der Mark Meißen, im Kurkreise und im
Osterlande, und nicht lange, so ward der aufblühende mitteldeutsche Staat
wieder zerstört durch jene verhängnisvolle Teilung, welcher die selbstmör-
derischen Bruderkämpfe der Ernestiner und der Albertiner entsprangen.
Zum zweiten Male stieg ein lichter Tag geistigen Ruhmes über
Thüringens Bergen empor, als der größte Sohn des Landes unter dem
Schutze seiner frommen Fürsten den Kampf für das Evangelium begann
und die Burg des ritterlichen Minnesanges die Geburtsstätte der deut-
schen Bibel wurde. Doch eben diese reiche Zeit entschied auch den poli-
tischen Verfall des Landes. Die deutsche Geschichte kennt nur wenige so
tragische Schicksalswechsel wie den jähen Zusammenbruch der Ernestini-
schen Macht; kein anderes unserer fürstlichen Geschlechter hat die Versäum-
nis großer Stunden so bitter, und die alte Wahrheit, daß die politische Welt
dem kühnen Wollen gehört, so schmerzlich empfinden müssen. Als Kaiser