Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

474 II. 8. Der Aachener Kongreß. 
Politik vorschwebte. Alexander wünschte außer der Fortdauer des Vier- 
bundes, dessen Wirksamkeit er auf den Kriegsfall zu beschränken dachte, 
auch den Abschluß eines allgemeinen europäischen Garantie-Vertrages. 
Diesen Einfall verdankte er einer schwülstigen Denkschrift Ancillons, einer 
Privat-Arbeit, welche der untertänige Vielschreiber dem Zaren vermut- 
lich schon auf der Durchreise in Berlin überreicht hatte. Ancillon ver- 
herrlichte darin die heilige Allianz, „diesen Vertrag, der allein genügen 
würde die gegenwärtige Epoche unsterblich zu machen,“ und schilderte so- 
dann mit gewohnter Geschwätzigkeit, wie auf die beiden Epochen des 
Gleichgewichts und des revolutionären Weltreichs nun endlich die glück- 
liche Zeit gefolgt sei, welche „die ebenso einfache als erhabene Idee der 
europäischen Familiengesellschaft“" begriffen habe. Um diese Idee zu ver- 
wirklichen, müßten die fünf großen Mächte allen Staaten Europas ihren 
gegenwärtigen Besitzstand solidarisch gegen jede gewaltsame Störung ver- 
bürgen und auf regelmäßigen Kongressen von Zeit zu Zeit die notwendi- 
gen Anderungen des Bestehenden friedlich beschließen. „Es kommt darauf 
an“, fügte Bernstorff erklärend hinzu, „der durchsichtigen Seele der heiligen 
Allianz einen festen Körper zu geben oder diese wesenlose Psyche mit der 
wahren befruchtenden Liebe und Gerechtigkeit zu vermählen.“ 
So sollte denn jenes Traumbild des ewigen Friedens, das die er- 
mattete Welt beherrschte, durch das gemeinsame Protektorat der Großmächte 
ins Leben eingeführt werden und die europäische Union in den regelmäßig 
wiederkehrenden Zusammenkünften der fünf Monarchen eine ständige 
Zentralgewalt erhalten; also gestaltet hätte der Weltteil die Form eines 
Bundesstaates angenommen, eine Verfassung, die sich mit der berechtigten 
Unabhängigkeit der Einzelstaaten nicht mehr vertrug. An diesen bedenk- 
lichen Vorschlag schloß Ancillon noch einen zweiten schlechthin verwerflichen, 
der das System der gemeinsamen Friedenswahrung geradezu verfälschte 
und das europäische Protektorat zu einem Werkzeug reaktionärer Partei- 
politik herabzuwürdigen drohte. Die Denkschrift verlangte, daß die großen 
Mächte sich verpflichteten überall die legitime Souveränität aufrecht zu 
erhalten, und erläuterte diesen Satz dahin: die Anderung einer Ver- 
fassung durch den Souverän kann niemals eine Intervention der großen 
Mächte veranlassen, wohl aber ein Umsturz oder eine Bedrohung der 
legitimen Souveränität. Also nicht die Wahrung des Rechts und des 
Friedens gegen jedermann sollte dem großen Friedensbunde obliegen, 
sondern die Verteidigung der Throne gegen die Völker. Damit war ein 
verhängnisvolles Wort gesprochen, das die Politik Metternichs sich nur 
zu bald gelehrig aneignete. *) 
Vorderhand blieb ein so vollständiger Triumph der reaktionären Partei 
noch unmöglich. Osterreich und Preußen zeigten sich zwar bereit auf 
  
*) Ancillon, JMémoire sur la grande alliance. Bernstorff an Lottum, 1. Nov. 1818.
	        
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