Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

476 II. 8. Der Aachener Kongreß. 
Ferdinand nicht eine ehrliche Vermittlung wollte, sondern einfach die 
Wiederherstellung seiner Herrschaft in Südamerika; und am Ende durfte 
doch selbst diese Tory-Regierung, obwohl sie von den wirtschaftlichen Fragen 
wenig verstand, sich den Traditionen der britischen Handelspolitik nicht 
ganz entziehen. England hatte durch den Abfall Südamerikas ein er- 
giebiges Handelsgebiet gewonnen und konnte die Wiedervereinigung der 
Kolonien mit dem spanischen Mutterlande unmöglich wünschen.) 
Trotz solcher Mißhelligkeiten, die bei der Mannigfaltigkeit der eu- 
ropäischen Interessen gar nicht ausbleiben konnten, war der Nachener 
Kongreß wohl der einträchtigste der neuen Geschichte; das Friedensbe- 
dürfnis und die Furcht vor der Revolution hielt die Mächte fest zu- 
sammen. Und es war wirklich ein europäischer Kongreß, obwohl man 
den Namen vermied. Stolz und sicher segelte das mächtige Orlogsschiff 
des Vierbundes mit der französischen Schaluppe im Schlepptau durch 
die Wogen der Zeit. Wellington, der nunmehr auch von Preußen und 
Osterreich den Marschallsstab erhielt und also in allen namhaften eu- 
ropäischen Heeren, mit der einzigen Ausnahme Frankreichs, die höchste 
militärische Würde bekleidete, erschien gleichsam als der Generalissimus 
des verbündeten Europas. Die Monarchen hielten sich fest überzeugt, 
daß ihre Vormundschaft dem Weltteil zum Segen gereiche. Sie zogen 
unbedenklich jede europäische Frage vor ihr Forum, obwohl sie den 
Staaten zweiten Ranges soeben erst versichert hatten, daß ihre Zusam- 
menkunft nur der Abwicklung der französischen Angelegenheiten gelte; und 
ließen sie einmal eine Streitfrage unerledigt, so geschah dies nicht, weil sie 
sich für unbefugt gehalten hätten, sondern weil sie sich nicht einigen konnten. 
Da der Zar der europäischen Union den Charakter einer großen christ- 
lichen Familie, im Sinne der heiligen Allianz, bewahren wollte, so erteilte 
der Kongreß seine Weisungen an die kleinen Staaten häufig durch väter- 
liche Handschreiben der drei Monarchen. Wie der König von Portugal zur 
Abschaffung des Sklavenhandels, so wurde der König von Schweden 
durch solche Handbillets zur Erfüllung seiner Pflichten gegen Dänemark 
angehalten. König Friedrich Wilhelm erinnerte seinen nordischen Nachbar 
ernstlich an die „Bande christlicher Brüderlichkeit, welche zwischen allen 
Fürsten und ihren Völkern bestehen.“ Das neue Haus der Bernadottes 
aber fühlte sich in dieser legitimen Staatengesellschaft noch sehr unsicher; 
Karl Johann bewarb sich schon seit einiger Zeit bei dem bayrischen und an- 
deren Höfen, immer vergeblich, um eine Gemahlin für seinen Thronfolger 
und wußte wohl, daß die Monarchen in Aachen soeben einen Dotations- 
fonds zum Besten der vertriebenen Wasas gebildet hatten. Daher 
beeilte er sich der Mahnung zu entsprechen und erreichte endlich nach 
schweren Kämpfen, daß der norwegische Storthing, wie billig, einen Teil 
  
*) Protokoll der 18. Sitzung vom 23. Okt. Bernstorff an Lottum, 19. Nov. 1818.
	        
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