510 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
Eröffnungsfeier den erhebenden Eindruck, als ob heute ein neues Zeit—
alter der deutschen Geschichte begänne. Varnhagen, der sich sogleich viel—
geschäftig unter die Abgeordneten mischte, konnte seiner Regierung gar
nicht genug erzählen von „der nicht zu schildernden Größe dieser impo—
santen Momente“.“) Die Volkskammer vornehmlich glaubte die Augen
der ganzen Welt auf sich gerichtet, wie denn in der Tat die Karlsruher
Vorgänge bis nach England und Amerika hinüber großes Aufsehen er—
regten, und beschloß sogleich einstimmig, alle Adels- und Amtstitel in der
Kammer abzulegen, da der Ehrentitel des Abgeordneten hoch über allen
anderen irdischen Würden stehe: — ein stolzer Beschluß, der bei den
ängstlichen Höfen sofort die Befürchtung hervorrief, daß ihm die Ab—
schaffung des Adels auf dem Fuße folgen würde.
Der badische Adel besaß nur in der ersten Kammer eine ständische
Vertretung; in der zweiten Kammer tagten nicht, wie in Bayern, die
Abgeordneten von vier ständischen Gruppen, sondern die Gesamtheit der
Wahlberechtigten war, ohne Unterschied der Stände, in städtische und
ländliche Wahlbezirke eingeteilt, deren jeder ein Steuerkapital von 800,000
Gulden umfaßte. Der Karlsruher Landtag erschien mithin, dem modernen
Charakter dieses Staates gemäß, nahezu als eine allgemeine Volksver—
tretung und stand schon durch seine Zusammensetzung den demokratischen
Ideen des neuen Jahrhunderts näher als die anderen Landstände jener
Tage; auch an Talent übertraf er den bayrischen Landtag bei weitem.
In der ersten Kammer saßen für die Kirchen Wessenberg und Hebel; für
die Universitäten Rotteck und sein Widerpart, der sinnig gelehrte Thibaut;
für den Adel der Fürst von Fürstenberg, ein Aristokrat im besten Sinne,
und der konservative Freiherr von Türckheim, ein Elsässer, der durch die
Revolution aus seiner Heimat vertrieben über die partikularistische Be—
schränktheit seiner badischen Landsleute frei hinausblickte; er scheute sich
nicht zu bekennen, daß ihm die Einheit der Nation das erste, die Ver—
fassungspolitik erst das zweite sei — was in dem allgemeinen Rausche
der konstitutionellen Selbstgefälligkeit schon als Volksverrat betrachtet
wurde. Unter den Mitgliedern der zweiten Kammer tat sich Professor
Duttlinger aus Freiburg, ein scharfsinniger Jurist hervor. An Sach-
kenntnis überragte alle der Geh. Referendär Ludwig Winter, ein derber,
freimütiger, kurz angebundener Schwarzwälder, Monarchist durch und
durch, das Musterbild eines altbadischen Beamten, zu allen sozialen Re-
formen gern bereit, aber ein abgesagter Feind des politischen Dilettantismus
und der parlamentarischen Redseligkeit. Der eigentliche Führer des Hauses
war Frhr. von Liebenstein, ein junger Beamter, der schon 1813 die Auf-
merksamkeit des durchreisenden preußischen Staatskanzlers auf sich gezogen
und neuerdings durch eine schwungvolle Rede zur Feier der Leipziger
*) Varnhagens Bericht, 22. April 1819.