44 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
zuweilen belästigen: zuletzt konnte er den strahlenden Augen der begeisterten
Brauseköpfe doch nicht zürnen und meinte gütig: es wäre töricht zu ver-
langen: komm, ältle du mit mir! Jungen Dichtern aber wußte er nur
zu raten was ihn selber die Natur gelehrt hatte: sie sollten sich vorerst
bemühen Männer zu werden, reich im Herzen wie im Kopfe, und ihre
Seele offen halten jedem Hauche der Zeit: „poetischer Gehalt ist Gehalt
des eigenen Lebens; man halte sich ans fortschreitende Leben und prüfe
sich von Zeit zu Zeit, ob man lebendig ist!“
Einzelne eifrige Renegaten, wie Friedrich Schlegel, unterstanden sich
wohl, von dem abgetakelten alten Herrgott zu reden; die Edleren wußten,
daß man diesen Mann nicht antasten konnte, ohne die Nation selber zu
beschimpfen. Wenn der Freiherr vom Stein die Zurückhaltung Goethes
in den napoleonischen Tagen beklagte, so fügte er bescheiden hinzu: Aber
er ist doch zu groß! Nirgends fand der Dichter wärmere Bewunderer
als in den Kennerkreisen Berlins. Hier wurde die Goethe-Verehrung
wie ein Geheimdienst getrieben; die ewig schwärmende Hohepriesterin Rahel
Varnhagen verkündete von ihrem Dreifuß herunter unermüdlich in orakel-
haften Reden den Ruhm des Vergötterten. Der alte Herr sah sich die
Weihrauchswolken, die vor seinem Altar an der Spree emporstiegen, aus
der Ferne gelassen an und gab gelegentlich in seinem umständlichen Ge-
heimrats-Stile eine höfliche Antwort. Doch näher auf den Leib durften
ihm diese Huldigenden nicht heranrücken; er fühlte, daß bei ihnen zur
anspruchsvollen Doktrin wurde was ihm selber die Natur in die Wiege
gelegt hatte. Der nixenhaften kleinen Rahel schlug ein dankbares, frommes,
menschenfreundliches Herz im Busen; mitten in der gemachten Ekstase
dieser tief eingeweihten Dilettanten und Halbkünstler bewahrte sie sich
das sichere Gefühl des Weibes für das Große und Starke; war doch Fichte
einst viele Jahre lang neben Goethe ihr Abgott gewesen. Aber dicht
neben solchen liebenswürdigen Zügen lag eine halb unbewußte und eben
darum unermeßliche Eitelkeit, die in der Bewunderung des ersten deut-
schen Dichters die Größe des eigenen Ichs genoß und sich über das stille
Gefühl der Unfruchtbarkeit tröstete mit dem erhabenen Gedanken: der im
Unendlichen schwebende Geist verschmähe sich einzubannen in die Kreise
der Sprachkunst! „Warum sollte ich nicht natürlich sein?“ — sagte sie
arglos — „ich wüßte doch nichts Besseres und Mannigfaltigeres zu affek-
tieren!“ Und wie wenig Inhalt lag doch in allen den gebildeten Redens-
arten dieser ästhetischen Teezirkel. Vieles was man dort Geist nannte
lief im Grunde hinaus auf die Mißhandlung der deutschen Sprache, auf
das verblüffende Zusammenstellen ungehöriger Wörter. Wenn Rahel ein
edel und feurig vorgetragenes Musikstück „einen gebildeten Sturmwind"
nannte, dann jauchzte die Priesterschar der höheren Bildung, und der
eunuchenhafte Gatte trug die Albernheit mit seinen zierlichsten Schrift-
zügen in seine Tagebücher ein. Der alte Heros in Weimar aber kannte