Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

512 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse. 
Lande der reinen Aufklärung die Durchschnittsansichten des jungen Libe— 
ralismus jene bequeme, gemeinverständliche Fassung erhielten, welche sie 
zu Vorurteilen aller machten. Die Initiative stand dem Landtage nicht 
zu, wohl aber das Recht, die Regierung um den Vorschlag eines Gesetzes 
zu bitten, und er machte von dieser Befugnis einen so umfassenden Ge— 
brauch, daß die Krone, wenn sie sich fügte, die Leitung der gesetzgeberischen 
Arbeit gänzlich verloren hätte. 
Ein ganzes Programm liberaler Wünsche, Stoffes genug für die 
Gesetzgebung mehrerer Jahrzehnte, ward in kurzen drei Monaten vor— 
gebracht und von der Kammer, da die Antragsteller sich zumeist in un— 
bestimmten Allgemeinheiten bewegten, einstimmig oder mit großer Mehr— 
heit angenommen, was der entzückte Varnhagen für ein merkwürdiges 
Zeichen politischer Reife erklärte. Ganz einstimmig war das Haus, als 
Frhr. von Lotzbeck, der reiche Lahrer Tabaksfabrikant, nach einer drastischen 
und nur allzu wahren Schilderung der zunehmenden Verarmung, die all- 
gemeine Verkehrsfreiheit für ganz Deutschland verlangte. Von den Wegen 
freilich, die zu diesem Ziele führen sollten, hatte niemand einen Begriff, 
und daß der König von Preußen soeben elf Millionen Deutschen den 
freien Verkehr geschenkt, wurde nicht nur nicht gewürdigt, sondern als ein 
schnöder Eingriff in die wahre deutsche Verkehrsfreiheit gebrandmarkt. 
Darauf beantragte der wackere Heidelberger Buchhändler C. F. Winter 
die Einführung der Preßfreiheit, und Liebenstein unterstützte ihn mit For- 
derungen, welche erst das neue deutsche Reich verwirklicht hat: er ver- 
langte nicht nur, wie billig, die Aufhebung der Zensur, sondern wollte 
auch die Kautionen für die Zeitungen und schlechthin alle vorbeugenden 
Maßregeln gegen die Presse beseitigt wissen, was in der Tat unmöglich 
war, solange die öffentliche Meinung sich noch nicht einmal über die 
Grundlagen des deutschen Bundesrechts geeinigt hatte. Dann bot Rotteck 
den Ministern, welche dieser Hilfe durchaus nicht begehrten, den Beistand 
der Kammer an zum Kampfe gegen die römische Kurie und verherrlichte 
die deutsche katholische Nationalkirche, wie immer fein und liebenswürdig 
in der Form, aber in der Sache ganz radikal, ganz unbekümmert um 
die Tatsachen der Geschichte, welche die Unausführbarkeit der Wessen- 
bergischen Träume bereits erwiesen hatten. Es lag eine wunderbare Kraft 
des Glaubens in dem warmherzigen Doktrinär, der sich die Möglichkeit eines 
stichhaltigen Einwandes gegen das Evangelium des Vernunftrechts schlechter- 
dings nicht vorzustellen vermochte. Thibaut und A. Müller, so gestand 
er bescheiden, sind mir an Geist und Gelehrsamkeit weit überlegen, aber 
Recht und Wahrheit stehen auf meiner Seite und mit ihnen ist man un- 
überwindlich. Darum verdammte er jedes Kompromiß als einen Ver- 
rat: „zwischen Recht und Nicht-Recht kenne ich keinen Mittelweg."“ 
Daran schlossen sich wohlberechtigte, aber noch ganz unfertige An- 
träge auf Beseitigung der Frohnden und Zehnten, auf Trennung von
	        
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