Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Liebenstein. Winter. Rotteck. 513 
Justiz und Verwaltung, auf öffentliches und mündliches Verfahren. Vor 
allem das Schwurgericht empfing hier unter schwungvollen Reden gleichsam 
die Weihe als ein Heiligtum des Liberalismus. Von der Notwendigkeit, 
die Gerichte mit dem Gewissen und den Lebensgewohnheiten des Volks in 
Einklang zu halten, von den Bedürfnissen der Rechtspflege war wenig die 
Rede; vielmehr wurden die Schwurgerichte, noch entschiedener als kurz 
zuvor in der bayrischen Kammer, für eine politische Institution erklärt. 
Sie sollten den „Hauptpfeiler der politischen Freiheit“ bilden; ohne sie, 
versicherte Liebenstein, sei alles andere nur Schein. Die öffentliche Mei- 
nung stimmte jubelnd zu, obgleich die Erfahrungen des napoleonischen 
Kaiserreichs wahrlich nicht für die neue Lehre sprachen; alle Welt grollte, 
und mit Recht, über die Pascha-Willkür der badischen Amtmänner und gab 
sich der kindlichen Hoffnung hin, durch „das Volk“ werde jede Tyrannei 
ein Ende finden. So ward die rein juristische Frage zur politischen Partei- 
sache. Den Regierungen fuhr der Schrecken in alle Glieder; sie waren 
bisher, zumal die preußische, der dringend nötigen Reform des Straf- 
verfahrens keineswegs abgeneigt gewesen, jetzt erschien ihnen die Neuerung 
staatsgefährlich. 
Nach dem mächtigen Pathos dieser Zukunftsdebatten, bei denen Varn- 
hagen immer die Hand mit im Spiele hatte, erschien die pedantische Klein- 
meisterei der Budgetberatung hochergötzlich. Allerdings bot das Budget, 
nach so vielen Jahren unordentlicher Finanzwirtschaft, manche anfecht- 
bare Stellen. Da entfalteten sich denn breit und behäbig alle jene Künste 
des parlamentarischen Mückenseigens und Milbenspaltens, welche den 
deutschen Landtagen auf lange hinaus zum Vorbilde dienten. Um jeden 
aggregierten Sekretär, um jede Pferderation der Bataillonsadjutanten ward 
mit heiliger Entrüstung gestritten; das unbeliebte Militärbudget erlitt 
natürlich starke Abstriche, und da die Regierung, unbedachtsam genug, ver- 
säumt hatte, den Unterhalt des landesfürstlichen Hauses vor der Ver- 
kündigung des Grundgesetzes sicherzustellen, so trat die unanständige 
Wißbegierde der Volksvertreter auch an die häuslichen Angelegenheiten 
der Dynastie heran. Die Zivilliste selbst fand die Genehmigung der 
Stände, aber von den Apanagen ward fast ein Viertel gestrichen. Auf 
ihrem Witwensitze zu Bruchsal lebte noch die Mutter des verstorbenen 
Großherzogs, die greise Markgräfin Amalie, eine Tochter der großen Land- 
gräfin von Darmstadt. Wie oft hatte diese tapfere Frau einst in den 
Tagen der Franzosenherrschaft ihr wirksames Fürwort für den badischen 
Staat eingelegt; und nun strich ihr dieser Landtag, der ihr eigentlich sein 
Dasein verdankte, 20,000 fl. von ihrem bescheidenen Einkommen. Wie 
hätten diese Kleinbürger auch begreifen sollen, daß der Hofhalt einer 
Fürstin, deren Töchter auf den Thronen von Rußland, Schweden, Bayern, 
Hessen und Braunschweig saßen, nicht nach den Bedürfnissen einer Land- 
pfarrerswirtschaft beurteilt werden durfte? Die ganze mächtige Verwandt- 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 33
	        
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