Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

516 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse. 
Welch eine Verdrehung allbekannter Tatsachen! Zur Zeit des Wiener 
Kongresses hatte noch niemand in Deutschland über den Gegensatz re— 
präsentativer und altständischer Verfassung ernstlich nachgedacht. Nach 
ihrem eigenen Geständnis verstanden die Urheber der Bundesakte unter 
„landständischer Verfassung“ ganz im Allgemeinen irgend eine Vertretung, 
sei es des ganzen Volkes, sei es der einzelnen Stände. Der Versuch 
Preußens, dem Verfassungsversprechen durch die Aufzählung landstän— 
discher Rechte einen bestimmten Inhalt zu geben, scheiterte an dem Wider— 
spruch der Rheinbundsstaaten, und man wählte absichtlich einen dehnbaren 
Ausdruck, damit die Souveränität der Kronen ja freie Hand behielte. 
sterreich, Sachsen, Mecklenburg konnten dabei an ihre alten Stände, 
die süddeutschen Staaten an moderne Konstitutionen denken. Winters 
Behauptung war rein sophistisch und, wie sich bald zeigte, eine arge Un— 
klugheit; denn begannen erst die Liberalen den Art. 13 in ihrem Sinne 
unredlich auszulegen, so mußte die reaktionäre Partei Gleiches mit Glei— 
chem vergelten, und sie hatte mindestens den Buchstaben für sich, wenn 
sie ihrerseits behauptete: landständische Verfassung bedeutet „Stände“, 
und nicht das Repräsentativsystem. Bei seinen Hörern hatte Winter ge— 
wonnenes Spiel. Als er schließlich die Beseitigung des Adels-Edikts be— 
antragte, wollte der Beifall kein Ende nehmen; auch das patriotische Fest— 
mahl fehlte nicht, das fortan regelmäßig zur Belohnung verdienter Volks— 
männer dargeboten wurde. In den größeren Verhältnissen Bayerns blieben 
die Mediatisierten, trotz so mancher Reibungen zwischen den beiden Kam- 
mern, von den Liberalen unangefochten; in dem kleinen badischen Lande 
wußte man mit einem hohen Adel nichts anzufangen, alle Aristokratie 
galt für volksfeindlich. Nach Kräften schürte Varnhagen unter den Ab- 
geordneten den Adelshaß, obgleich er wußte, daß seine Regierung das 
Adels-Edikt mit veranlaßt hatte; er scheute sich nicht, sogar in seinen 
amtlichen Berichten die Gegner des Bundestags und der Quadrupelallianz 
feurig zu loben.“) 
Der weitere Verlauf der Debatten zeigte, wie gründlich die nationale 
Gesinnung durch die Nichtigkeit des Bundestags bereits zerrüttet war. 
Die Bundesversammlung ward mit Beleidigungen überschüttet, das Grund- 
gesetz des Bundes mit der äußersten Geringschätzung abgefertigt. Dieselben 
Liberalen, die so laut nach der Erfüllung des vieldeutigen Art. 13 riefen, 
erklärten die ausführlichen und unzweideutigen Vorschriften des Art. 14 
für unverbindlich. Die Ehrenpflicht der Nation gegen die schändlich miß- 
handelten Opfer des napoleonischen Gewaltstreichs von 1806, der klare 
Wortlaut der Bundesakte, die so viel älter war als die badische Ver- 
fassung und immerhin das einzige staatsrechtliche Band für dies zer- 
splitterte Volk bildete — das alles sollte nichts gelten gegenüber einem 
  
*) Varnhagens Berichte, 12. Mai, 21. Juli 1819.
	        
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