542 II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
Eine ganze Schar junger Leute ward monatelang wegen einzelner tö-
richten oder auch ganz harmlosen brieflichen Außerungen von einem
Verhör in das andere geschleppt. So mußten die beiden Schweizer
Studenten Ulrich und von Wyß eine lange Untersuchung aushalten, weil
sich in einem ihrer Briefe die Bemerkung fand, Sands Tat werde
der guten Sache schaden. Unter der guten Sache konnte ja nur eine de-
magogische Verschwörung gemeint sein; auf die Frage der Angeklagten, was
man denn eigentlich unter „demagogisch“ verstehe, gab der Untersuchungs-
richter, ein blutjunger Referendar, die Antwort: demagogisch heißt jedes
gewaltsame Hervorrufen einer Verfassung. Auch einer der angesehensten
Bürger Berlins, der Buchhändler G. A. Reimer, ein Geschäftsmann
großen Stils, kühn im Wagen und klug im Rechnen, einer der ersten
Vertreter der wiedererwachenden wirtschaftlichen Tatkraft des deutschen
Bürgertums, mußte eine Haussuchung über sich ergehen lassen, weil er
mit Niebuhr, Eichhorn, Schleiermacher nahe befreundet war und die
Turnfreunde in seinem gastlichen Hause viel verkehrten. Grano und
Dambach beteiligten sich persönlich an dem wichtigen Geschäfte. Reimer
selbst war gerade verreist, und da Eichhorn als Freund des Hauses sich
der Frau tapfer annahm, die Kommission zur Vorzeigung ihrer Vollmacht
zwang, so rächten sich diese Subalternen durch einen unverschämten Be-
richt, worin sie deutlich zu verstehen gaben, der pp. Eichhorn — einer
der ersten Beamten der Monarchie — möchte wohl auch mit zu der
Verschwörung gehören. In Reimers Papieren fanden sich einige Briefe
Schleiermachers aus der Zeit des Tilsiter Friedens, die von einer na-
henden Volkserhebung sprachen, und diese gegen die Fremdherrschaft ge-
richteten Worte genügten, um auch den großen Theologen verdächtig er-
scheinen zu lassen. Seine Predigten wurden während der nächsten Monate
polizeilich überwacht. Spione zeichneten auf, wie er von der Befreiung
aller geistigen Kräfte des Menschen, die wir der Lehre Christi verdanken,
sprach, wie die Gemeinde sang: „Lobsingt! Nun hat er schon Am Holz
ein Fluch gehangen!“ — und wie endlich gar „vier mit Bärten ver-
schene Shidenten nach erhaltenem Abendmahl knieend scheinbar inbrünstig
eteten“.
Kamptz trug kein Bedenken, zahlreiche, zum Teil entstellte, Sätze
aus den Briefen der Verhafteten sofort zu veröffentlichen, obwohl er zu
den eifrigsten Verteidigern des geheimen Gerichtsverfahrens zählte; er
schrieb in die Vossische Zeitung einen so beleidigenden Artikel über Jahns
Verhaftung, daß der Gefangene eine Verleumdungsklage anstrengte, die
*) Aufzeichnung des Stud. von Wyß über seine Verhaftung am 7. Juli; Bericht der
Kommissare Grano, Dambach, Eckert über die Haussuchung bei G. A. Reimer, 11. Juli;
Polizeibericht an den Polizeidirektor von Le Coq, 14. Nov. 1819 f. Diese und andere
Papiere zur Geschichte der Demagogenverfolgung verdanke ich Hrn. G. Reimer in Berlin.
Einiges Nähere in den Preuß. Jahrbüchern, Juli 1879.