Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Die öffentliche Meinung und die Karlsbader Beschlüsse. 577 
Selbst in den höchsten Kreisen der Gesellschaft fehlte es nicht an scharfem 
Tadel. Hans von Gagern richtete an seinen Freund Plessen einen warnen— 
den Brief, der neben vielen Wunderlichkeiten auch manche beherzigenswerte 
Mahnung aussprach: „Hintergehen Sie Ihre Herren nicht, bringen Sie 
ihnen nicht den Glauben bei, als ob alles das, was jetzt vorgeht, Neue— 
rung und Neuerungssucht, von ihrer Seite nur Langmut und Gnade 
sei!“ Sogar Stein, der über die Torheiten der Jenenser Professoren 
und der Karlsruher Adelsfeinde sehr streng urteilte, verdammte die Ein- 
setzung der neuen Regierungsbevollmächtigten als eine Beleidigung der 
Universitäten; und als die Spürer der Demagogenjagd nun gar den Frei- 
herrn selber der Teilnahme an der großen Verschwörung bezichtigten, da 
brach sein Zorn furchtbar los. „Vox faucibus haeret“, rief er aus, „über 
eine solche viehische Dummheit oder eine solche teuflische Bosheit oder einen 
solchen nichtswürdigen und aus einem durchaus verfaulten Herzen ent- 
stehenden Leichtsinn.“ Auch den Fürsten, die ihr Haupt unter das Joch ge- 
beugt, fiel es nachher schwer auf die Seele, daß niemals ein deutscher Kaiser 
den geringsten seiner Reichsfürsten so schmählich behandelt hatte, wie jetzt 
der Wiener Hof den gesamten Bundestag. „Dieser Eingriff in die noch 
junge Konstitution Deutschlands“, schrieb der Herzog von Oldenburg, „hat 
nur die Unbefangenen erschreckt, die öffentliche Meinung beleidigt und den 
Tadel gereizt.“ Die Verstimmung der kleinen Höfe begann recht bedenklich 
zu werden; nach alledem hielt es Metternich doch für geraten, die War- 
nung des preußischen Bundesgesandten zu beherzigen und verabredete mit 
dem Berliner Kabinett, daß von den Ministerkonferenzen des Winters kein 
deutscher Hof ausgeschlossen werden solle.) 
In der Presse des Auslandes fand der allgemeine Groll lauten Wider- 
hall. Nur die französischen Ultras frohlockten und deuteten vernehmlich 
an, daß auch für Frankreich ein Karlsbader Staatsstreich heilsam werden 
könne. Aber schon der Moniteur wagte die Taten Osterreichs nicht 
offen zu billigen: in Frankreich, so ließ er sich vernehmen, seien solche 
Gesetze unanwendbar, für den Despotismus biete Europa keinen Raum 
mehr. Die liberalen Publizisten vollends überboten einander in stürmischer 
Entrüstung. Zuerst natürlich war der unvermeidliche Erzbischof de Pradt 
wieder zur Stelle mit einer jener umfänglichen Schriften, die man, 
nach Gentzs Urteil, beliebig von vorn, von hinten oder aus der Mitte 
heraus lesen konnte; schon im August, noch bevor er von den Verhand- 
lungen in Böhmen ein Wort kannte, ließ er das erste Heft seiner Schrift 
über „den Karlsbader Kongreß"“ erscheinen und verkündete, die Zeiten von 
Pillnitz und Brunswic kehrten wieder. Noch lauter tobte Etienne in der 
Minerva, desgleichen der Censeur, der Independant, fast alle liberalen 
Blätter Frankreichs und Englands. Die Deutschen, hieß es da, seien durch 
eine schimpfliche Sklaverei „aus der Menschheit ausgestoßen“, den Pro- 
*) Krusemarks Bericht, Wien 16. Okt. 1819. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 37 
 
	        
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