Die öffentliche Meinung und die Karlsbader Beschlüsse. 577
Selbst in den höchsten Kreisen der Gesellschaft fehlte es nicht an scharfem
Tadel. Hans von Gagern richtete an seinen Freund Plessen einen warnen—
den Brief, der neben vielen Wunderlichkeiten auch manche beherzigenswerte
Mahnung aussprach: „Hintergehen Sie Ihre Herren nicht, bringen Sie
ihnen nicht den Glauben bei, als ob alles das, was jetzt vorgeht, Neue—
rung und Neuerungssucht, von ihrer Seite nur Langmut und Gnade
sei!“ Sogar Stein, der über die Torheiten der Jenenser Professoren
und der Karlsruher Adelsfeinde sehr streng urteilte, verdammte die Ein-
setzung der neuen Regierungsbevollmächtigten als eine Beleidigung der
Universitäten; und als die Spürer der Demagogenjagd nun gar den Frei-
herrn selber der Teilnahme an der großen Verschwörung bezichtigten, da
brach sein Zorn furchtbar los. „Vox faucibus haeret“, rief er aus, „über
eine solche viehische Dummheit oder eine solche teuflische Bosheit oder einen
solchen nichtswürdigen und aus einem durchaus verfaulten Herzen ent-
stehenden Leichtsinn.“ Auch den Fürsten, die ihr Haupt unter das Joch ge-
beugt, fiel es nachher schwer auf die Seele, daß niemals ein deutscher Kaiser
den geringsten seiner Reichsfürsten so schmählich behandelt hatte, wie jetzt
der Wiener Hof den gesamten Bundestag. „Dieser Eingriff in die noch
junge Konstitution Deutschlands“, schrieb der Herzog von Oldenburg, „hat
nur die Unbefangenen erschreckt, die öffentliche Meinung beleidigt und den
Tadel gereizt.“ Die Verstimmung der kleinen Höfe begann recht bedenklich
zu werden; nach alledem hielt es Metternich doch für geraten, die War-
nung des preußischen Bundesgesandten zu beherzigen und verabredete mit
dem Berliner Kabinett, daß von den Ministerkonferenzen des Winters kein
deutscher Hof ausgeschlossen werden solle.)
In der Presse des Auslandes fand der allgemeine Groll lauten Wider-
hall. Nur die französischen Ultras frohlockten und deuteten vernehmlich
an, daß auch für Frankreich ein Karlsbader Staatsstreich heilsam werden
könne. Aber schon der Moniteur wagte die Taten Osterreichs nicht
offen zu billigen: in Frankreich, so ließ er sich vernehmen, seien solche
Gesetze unanwendbar, für den Despotismus biete Europa keinen Raum
mehr. Die liberalen Publizisten vollends überboten einander in stürmischer
Entrüstung. Zuerst natürlich war der unvermeidliche Erzbischof de Pradt
wieder zur Stelle mit einer jener umfänglichen Schriften, die man,
nach Gentzs Urteil, beliebig von vorn, von hinten oder aus der Mitte
heraus lesen konnte; schon im August, noch bevor er von den Verhand-
lungen in Böhmen ein Wort kannte, ließ er das erste Heft seiner Schrift
über „den Karlsbader Kongreß"“ erscheinen und verkündete, die Zeiten von
Pillnitz und Brunswic kehrten wieder. Noch lauter tobte Etienne in der
Minerva, desgleichen der Censeur, der Independant, fast alle liberalen
Blätter Frankreichs und Englands. Die Deutschen, hieß es da, seien durch
eine schimpfliche Sklaverei „aus der Menschheit ausgestoßen“, den Pro-
*) Krusemarks Bericht, Wien 16. Okt. 1819.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 37