602 II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe.
der Revolutionäre; sie versuche die Grundlagen unserer auswärtigen Politik
umzustoßen, den Staatskanzler und Bernstorff zu stürzen. Er selber sei
entschlossen, nicht bei halben Maßregeln stehen zu bleiben, denn „schwanken
wir, so rennen wir unzweifelhaft in unser Verderben und wir werden
Deutschland, vielleicht Europa mit hineinreißen.“ Aber um nicht Richter
in eigener Sache zu sein, bitte er Ancillon um das „Gutachten eines auf-
geklärten und unparteiischen Patrioten“. Also Ancillon als unparteiischer
Schiedsrichter über Bernstorff! Es war genau das nämliche, wie wenn
man Bernstorff selber angerufen hätte. Mit welchem faunischen Lächeln
mag der schlaue alte Staatskanzler die Antwort gelesen haben, welche
ihm Ancillon nach vier Tagen unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegen-
heit übersendete. Den Inhalt kannte er im voraus.
Bernstorffs Mentor gab sich kaum Mühe, die Maske des Unpar-
teiischen beizubehalten. Er redete geradezu in Bernstorffs Namen: „der
Graf zählt auf die Festigkeit des Königs und auf die Unterstützung Ew.
Durchlaucht. Vereinigt sind Sie unbesiegbar, und Deutschlands böser
Genius wird beschworen werden."“ Die Einwände der Opposition, „die
zugleich ein Unglück und ein Skandal ist,“ fand er so kläglich, daß man
kaum noch an die ehrliche Uberzeugung der drei Minister glauben könne.
Um „der Sache der Wahrheit zum Triumphe zu verhelfen“, hatte er über-
dies noch „con amore“ eine ungeheure Denkschrift angefertigt und, wie
gewöhnlich, das Wasser nicht halten können. Die Arbeit war ihm „unter
der Feder angewachsen“". Auf dreiunddreißig eng beschriebenen Seiten gab
er eine gräßliche Schilderung von dem Geiste der Beweglichkeit, der sich
erst in Parteigeist, dann in revolutionären Geist umgesetzt habe. Zum
Glück hätten Osterreich und Preußen rechtzeitig je ne finsteren Pläne durch
schaut, welche auf die Errichtung einer großen deutschen Bundesrepublik
hinausliefen. Die Karlsbader Beschlüsse sind, als dauernde oder als vor-
übergehende Maßregeln betrachtet, gleich weise. Hardenberg beendet, Bern-
storff beginnt damit glorreich eine große Laufbahn.) — Auch der Bischof
Eylert sendete ein Gutachten ein, ganz in Ancillons Sinne. Die Ent-
scheidung ließ sich nicht länger hinausschieben, da die auswärtigen Diplo-
maten bereits von dem Streite erfahren hatten und über die revolutionären
Gefahren, welche den ehrwürdigen Staatskanzler bedrohten, Schreckliches
zu erzählen wußten.) —
Um die Verwirrung zu vollenden, brachen jetzt noch in zwei De-
partements Zwistigkeiten aus, die, an sich ohne politische Bedeutung, doch
auf die Ministerkrisis zurückwirkten. Die unnatürliche Zerspaltung des
Justizministeriums in zwei Departements hatte schon längst zu wider-
*) Hardenberg an Ancillon, 11. Nov., Ancillons Antwort, 15. Nov. 1819, mit
Beilage: Considérations sur les derniers décrets de la Diete.
*“) Bericht des schwedischen Gesandten von Taube an Graf Engeström in Stockholm,
Berlin 9. Nov. 1819.