608 II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe.
Friedrich Wilhelm dem Rate Humboldts folgen und in Frankfurt nach—
träglich beantragen, daß die Gültigkeit des provisorischen Preßgesetzes von
fünf auf zwei Jahre herabgesetzt würde? Durfte er um einer solchen aus—
sichtslosen Halbheit willen die Grundlagen seiner europäischen Politik ver—
ändern? In diesen Tagen der Tendenzpolitik der Legitimität war das
System der europäischen Allianzen unlösbar mit den inneren Verhältnissen
der Staaten verkettet, und eine Großmacht konnte nicht, wie die Schein—
staaten des Rheinbundes, zwischen ihrem eigenen Volke und den auswär—
tigen Mächten ein unredliches Spiel treiben. Ein nachträglicher Kampf
gegen die Karlsbader Beschlüsse, das bedeutete: Trennung von Österreich,
Auflösung oder doch Lockerung jenes großen Vierbundes, welchem die Mon-
archie während der letzten Jahre ihre Sicherheit, ihr europäisches Ansehen
verdankte. Getrennt von seinen alten Bundesgenossen stand der Staat
völlig vereinsamt; er fand an dem liberalisierenden Partikularismus der
deutschen Kleinstaaten weder mächtigen noch treuen Beistand, sah sich
vielleicht bald auf die Seite Frankreichs hinübergedrängt, jedenfalls ge-
zwungen zu rüsten, auf der Wacht zu stehen; das will sagen: er mußte
brechen mit jener Politik des Sparens, der stillen Sammlung der Kräfte,
die ihn allein wieder erheben konnte, und sich bereit halten die große Macht-
frage der deutschen Zukunft vor der Zeit zu lösen. Und durfte die so lange
geplante Wiederherstellung und Ordnung im Finanzwesen jetzt nochmals
verschoben werden — aus Rücksicht auf eine Opposition, welche den vor-
handenen Notstand einfach ableugnete und bisher nichts vorgebracht hatte
als unfruchtbare Verneinungen?
Der König tat nur das Notwendige, als er am 31. Dezember die
beiden Minister mit kurzen Worten von den Geschäften des Staatsrats
und des Staatsministeriums dispensierte. Schuckmann und Kircheisen er-
hielten wieder die ungeteilte Leitung der Ministerien des Innern und der
Justiz. Zugleich wurde General Pirch zum Direktor der Militär-Erziehungs-
anstalten ernannt.') Beyme war schmerzlich überrascht und unterwarf sich
„mit zerrissenem Herzen"“. Humboldt ertrug den Schlag mit seiner ge-
wohnten philosophischen Ruhe, und da er nach dem Kriege eine Dotation
erhalten hatte, so verzichtete er auf seinen Ruhegehalt, was der König
dankbar anerkannte. Er schied, wie er dem Monarchen schrieb, „mit dem
Bewußtsein, immer nur des Königs und des Staates Wohl vor Augen
gehabt zu haben.“““) Und gewiß ward der Mann, der politische Macht
und politischen Ruhm so niedrig schätzte, nicht allein durch persönlichen
Ehrgeiz geleitet, wie ihm Hardenberg und Gneisenau vorwarfen. Er hielt
die Macht des Staatskanzlers für verderblich und durchschaute die Sünden
*) Drei Kabinetts-Ordres v. 31. Dez. 1819 an das Staatsministerium, an Beyme,
an Humboldt.
*") Beyme an den König, 1. Jan., Humboldt an den König, 1. Jan., Kabinetts-
ordre an Humboldt, 6. Jan. 1820.