614 II. 10. Der Umschwung am preußischen Hofe.
Geschlecht in Erfüllung gehen sieht, regten sich in seinem stürmischen
Kopfe: er dachte an eine gemeinsame Gewerbegesetzgebung, an ein deutsches
Postwesen, an nationale Industrieausstellungen, er hoffte die romantischen
Kaiserträume des jungen Geschlechts durch die Arbeit der praktischen natio-
nalen Politik zu verdrängen und sah die Zeit voraus, da eine freie Ver-
fassung, ein deutsches Parlament aus der Handelseinheit hervorgehen würde.
Als der Schöpfer des Zollvereins, wie er selber im Ubermaße seines Selbstge-
fühls sich genannt hat, kann List gleichwohl keinem Unbefangenen gelten.
Ein klares Programm, einen bestimmten, durchgebildeten politischen
Gedanken aufzustellen und festzuhalten lag überhaupt nicht in der Weise
der Patrioten jener Zeit. Nur im Innern der süddeutschen Mittelstaaten
begann die konstitutionelle Bewegung bereits feste, deutlich ausgesprochene
Parteimeinungen hervorzurufen. Wer über den deutschen Gesamtstaat schrieb,
begnügte sich noch immer der elenden Gegenwart ein leuchtendes Ideal-
bild gegenüberzuhalten und dann im raschen Wechsel Einfälle und Winke
für den praktischen Staatsmann hinzuwerfen. Wie Görres im Rheinischen
Merkur ein ganzes Geschwader deutscher Verfassungspläne harmlos ver-
öffentlichte, so eilte auch List in jähen Sprüngen von einem Plane zum
andern über. Bald will er die deutschen Bundesmauten an eine Aktien=
gesellschaft verpachten; bald soll Deutschland sich anschließen an das öster-
reichische Prohibitivsystem; dann überfällt ihn wieder die Ahnung, ob nicht
Preußen den Weg zur Einheit zeigen werde. In seiner Eingabe an den
Bundestag gestand er: „Man wird unwillkürlich auf den Gedanken ge-
leitet, die liberale preußische Regierung, die der Lage ihrer Länder nach
vollkommene Handelsfreiheit vor allen anderen wünschen muß, hege die
große Absicht, durch dieses Zollsystem die übrigen Staaten Deutschlands
zu veranlassen, endlich einer völligen Handelsfreiheit sich zu vergleichen.
Diese Vermutung wird fast zur Gewißheit, wenn man die Erklärung der
preußischen Regierung berücksichtigt, daß sie sich geneigt finden lasse, mit
Nachbarstaaten besondere Handelsverträge zu schließen.“ Leider vermochte
der Leidenschaftliche nicht an dieser einfach richtigen Erkenntnis festzuhalten.
Er war. ein Gegner der preußischen Handelspolitik, soweit aus seinem
unsteten Treiben überhaupt eine vorherrschende Ansicht erkennbar wird;
denn nach allen Abschweifungen lenkte er immer wieder auf jenen Weg
zurück, welchen Preußen längst als unmöglich erkannt hatte, auf die Idee
der Bundeszölle. Von den preußischen Zuständen besaß List nur sehr
mangelhafte Kenntnis; sein Verein ward durch die Hoffnung auf baldige
Wiederaufhebung des preußischen Zollgesetzes zusammengehalten und unter-
hielt Korrespondenten in allen größeren deutschen Staaten, aber, bezeich-
nend genug, keinen in Preußen.
Nur der Zauber, der an dem Namen Deutschlands haftete, erklärt das
Rätsel, daß so viele wackere und einsichtige Männer noch immer auf eine
Handelspolitik des Deutschen Bundes hoffen konnten. Seinerseits hatte der