Die öffentliche Meinung und das Zollwesen. 619
handeln hatte, urteilte anders; er galt in der Diplomatie allgemein als
ein bedeutender Kopf und als ein höchst unbequemer Unterhändler. Er
zählte zu jenen stillen Gelehrtennaturen, die unter schmuckloser Hülle ein
sehr reizbares Selbstgefühl hegen, den Widerspruch ungern, noch schwerer
die Widerlegung ertragen. Weit entfernt von der lauten Prahlsucht
Friedrich Lists war er doch mit nichten gesonnen sein Licht hinter den
Scheffel zu stellen. Er gab wohl zu, kein einzelner Mann könne als Ur—
heber des Zollvereins gelten. Doch er rühmte sich, seine Denkschrift habe
den Gedanken eines allgemeinen Zollverbandes zum ersten Male entwickelt,
sie habe, bis auf einen einzigen Irrtum, die Verfassung des späteren
Zollvereins im voraus richtig gezeichnet. Er übersah, daß dieser einzige
Irrtum gerade die Lebensfrage der deutschen Handelspolitik betraf; er
übersah nicht minder, daß der beste Teil seiner Denkschrift lediglich als
Wunsch aussprach, was Preußen durch die Tat schon vollzogen hatte.
Ihm gebührt nur das große Verdienst, daß er, gleichzeitig mit den preußi—
schen Staatsmännern und unabhängig von ihnen, für einige wichtige
Fragen deutscher Handelspolitik die rechte Lösung erdachte; jedoch die ent—
scheidende Frage: „Bundeszölle oder Anschluß an das preußische System?“
wurde in Berlin richtig, von Nebenius falsch beantwortet. Nebenius kam
der Wahrheit näher als List. Darf man diesen mit Görres vergleichen,
so läßt sich von jenem sagen, er habe von dem Zollvereine der Zukunft etwa
so viel geahnt wie Paul Pfizer von dem heutigen Deutschen Reiche.
Eine klare Vorstellung von dem Handelsbunde, der anderthalb Jahr—
zehnte später ins Leben trat, hegte im Jahre 1819 noch niemand. „Die
Idee hatte sich noch gar nicht entwickelt,“ pflegte Eichhorn späterhin zu
sagen. Der Aufzug des großen Gewebes war bereits ausgespannt. Es
bestand das preußische Zollsystem, es bestand der ausgesprochene Wille
Preußens, dies System zu erweitern und den deutschen Nachbarn ohne
Kleinsinn reichlichen Anteil an den gemeinsamen Zolleinkünften zu ge—
währen. Noch fehlte der Einschlag. Es fehlte der gute Wille der Nach—
barstaaten; es fehlte hüben wie drüben ein deutlicher Begriff von den losen
und lockeren bündischen Formen, welche allein einen dauernden Handels-
bund zwischen eifersüchtigen souveränen Staaten — dies noch niemals ge-
wagte Unternehmen ermöglichen konnten. Jenen guten Willen hat nachher
die Not gezeitigt. Diese Verfassungs-Formen des Zollvereins sind nicht
von Nebenius, noch von irgend einem Denker im voraus ersonnen worden,
da die Theorie solche Aufgaben niemals lösen kann; sie sind gefunden
worden auf den Wegen praktischer Politik, durch Verhandlungen und ge-
genseitige Zugeständnisse zwischen den deutschen Staaten. Der badische
Denker schrieb als ein unverantwortlicher Privatmann, er durfte kühn
sofort die Einheit des ganzen Vaterlandes ins Auge fassen. Er hat an
diesem Ideal unverbrüchlich festgehalten, und weil er so hohen Flug nahm,
verfiel er auf den unmöglichen Plan der Bundeszölle. Preußens Staats-