Boeckh. G. Hermann. 73
Unter den Jüngeren, welche sich diese historische Auffassung aneigneten,
stand der Karlsruher August Boeckh obenan, der allbeliebte freimütige
Lehrer der Berliner Studenten; der hatte in den Bacchanalien der Hei—
delberger Romantiker seinen gründlichen Fleiß nicht eingebüßt, nur seinen
Gesichtskreis erweitert, sein Verständnis für alles Menschliche freier aus—
gebildet. Viele Jahre hindurch trug er sich mit dem Plane, in einem
umfassenden Werke „Hellen“ die Einheit des griechischen Lebens in allen
seinen Erscheinungen darzustellen. Der großgedachte Bau kam leider nie—
mals unter Dach. Nur ein Bruchstück erschien im Jahre 1817: „die
Staatshaushaltung der Athener“ — ein erster gelungener Versuch, auch
die griechische Geschichte, nach Niebuhrs Vorbild, als ein wirklich Ge—
schehenes und Erlebtes zu verstehen. Die Historiker frohlockten, da ihnen
hier aus vergessenen und übersehenen Quellen das verschlungene Getriebe
der attischen Volks- und Staatswirtschaft in seinem inneren Zusammen—
hange gezeigt wurde; die Nationalökonomen dagegen verstanden noch nicht,
von der induktiven Methode des geistvollen Philologen Vorteil zu ziehen.
Denn unter allen historischen Wissenschaften war die Volkswirtschafts-
lehre am weitesten zurückgeblieben; sie ruhte noch aus auf der mißver-
standenen Doktrin Adam Smiths und wähnte noch nach der Weise des
Naturrechts das historische Leben der Völker in das Joch ewig gültiger
abstrakter Regeln spannen zu können.
Wie Lachmann neben Jacob Grimm so stand neben Beoeckhs sachlich
historischer Richtung die Schule der formalen klassischen Philologie, die
in Gottfried Hermanns Griechischer Gesellschaft zu Leipzig fast ein halbes
Jahrhundert hindurch ihre fruchtbare Pflanzstätte behielt. Hier blühten
Grammatik, Metrik, streng methodische Textkritik. In ihrem gefeierten
Lehrer vereinigte sich alles, was die alte obersächsische Gelehrsamkeit aus-
zeichnete: gründliches Wissen und tief eindringender Scharfsinn, eiserner
Fleiß und urbane Duldsamkeit, aber auch ein nüchterner Rationalismus,
der von der geheimnisvollen Nachtseite des historischen Lebens grundsätzlich
nichts sehen wollte. Beide Schulen hatten von Wolf gelernt und vieles
blieb ihnen gemeinsam; war doch auch der Berliner Immanuel Bekker
unter Wolfs Augen groß geworden, der wortkarge Meister der Kritik,
der mit sicherer Hand so viele griechische Texte auf diplomatischer Grund-
lage herstellte, ohne sich je zu einer Erläuterung herabzulassen.
Selbständig neben beiden ging die hochromantische Schule der Sym-
boliker, von Friedrich Creuzer geführt, ihre wunderlichen Wege. Creuzers
rege Phantasie fühlte sich von frühauf mächtig hingezogen zu der Welt
des Ubersinnlichen und Geheimnisvollen. Schon zu Anfang der achtziger
Jahre, lange bevor die Romantik erwachte, begeisterte sich dieser geborne
Romantiker daheim in Marburg an dem Anblick der himmelanstrebenden
gotischen Pfeiler der Elisabethkirche; dann schloß er Freundschaft mit
Novalis, mit Görres, mit dem Heidelberger Dichterkreise, aber auch mit