78 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Zwar der ehrliche Oken bewahrte sich inmitten dieser Saturnalien immer
noch die Freude am Beobachten und Vergleichen und bereicherte die Wis—
senschaft durch gründliche Untersuchungen über die Entwicklungsgeschichte
der Säugetiere; doch manches schöne Talent ging in dem phantastischen
Spiele völlig unter. Wie viele junge Kraft mußte der junge Justus Liebig
verschwenden, bis er des romantischen Hochmuts endlich Herr ward und
sich entschloß, schlichtweg als ein Unwissender an die wirkliche Welt heran—
zutreten.
Die Naturphilosophie sah in der Natur den unbewußten Geist, in
den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und suchte daher
überall nachzuweisen, wie bewußtes und unbewußtes Leben ineinander
spielen. Hier, auf dem rätselreichen Grenzgebiete der Naturwissenschaft,
berührte sie sich mit der religiösen Schwärmerei der Zeit und mit den Ge—
heimlehren jener Zauberer und Schwindler, die seit Swedenborgs Tagen
das ganze alte Jahrhundert hindurch an den Höfen ihr Wesen getrieben
hatten. Bis zum Jahre 1815 lebte noch in der Schweiz der alte Mes-
mer, der Wundermann, dessen Lehren einst Lavater in den Kreisen der
Erweckten verbreitet hatte; der kannte die geheime Naturkraft der magne-
tischen Allflut, das eigentliche Lebensprinzip, das alle Krankheiten heilen,
ja selbst verhüten sollte. Dies halbverschollene „Evangelium der Natur“
brachte der Berliner Wohlfart jetzt wieder in Umlauf. Uberall tauchten
schlafwandelnde Frauen und magnetische Heilkünstler auf; überall in den
eleganten Salons bildeten verzückte Herren und Damen die magnetische
Kette. Hufeland und mehrere andere bedeutende Arzte befreundeten sich
mit der neuen Offenbarung; jedoch die Mode des Tages stürmte blind-
lings über diese Gemäßigten hinweg.
Das Körnlein Wahrheit, das in den Doktrinen des Magnetismus
lag, verschwand bald in dem trüben Schlamme des gemeinen Aberglau-
bens. Ein krankhafter Drang nach dem Unerforschlichen betörte die
Wissenschaft bevor sie noch in der erforschbaren Welt recht heimisch ge-
worden; phantastische Bücher erzählten von dem Geheimnis der „Lebens-
kraft“", die man sich als eine besondere Substanz vorstellte. Auch Galls
Schädellehre gewann wieder zahlreiche Gläubige, zumal seit der höfische
Naturphilosoph Carus sie der vornehmen Welt mundgerecht zu machen
wußte. General Müffling ließ den jungen Offizieren, wenn sie in die
Berliner Kriegsschule eintraten, regelmäßig durch einen Phrenologen die
Köpfe betasten, um die Talente herauszufinden; und stand ein Porträt-
maler auf der Höhe der Zeit, so schmückte er seine Gestalten mit unnatür-
lich hohen Stirnen, den Kennzeichen der Genialität. Dem alten Goethe
sendete einst ein englischer Verehrer eine Büste, die einem Wasserkopfe sehr
ähnlich sah; sie stellte den Dichter selber vor, der Bildhauer hatte nach
den Grundsätzen der Schädellehre a priori erkannt, wie der Fürst der
Dichtung unfehlbar aussehen mußte. Männer aller Parteien versanken