Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Historische Romantik des Kronprinzen. 123 
ein glänzendes Gewimmel althistorischer Landschaften unter den Flügeln 
des schwarzen Adlers vereinigt und gedachte diese Fülle geschichtlichen 
Lebens wiederherzustellen, in jeder Landschaft des Reiches die Gliederung 
der Stände neu zu beleben. Er ward nicht müde, überall in der Heimath 
die Stätten großer Erinnerungen oder die Spuren alten Volksbrauchs 
aufzusuchen. Bald besuchte er in den Marken die Gräber der Ascanier 
oder in Quedlinburg die Wiege der Sachsenkönige, bald nahm er fürlieb 
am Tische eines westphälischen Hofschulzen und freute sich der alten 
unverstümmelten Cheruskersitte; mit besonderer Vorliebe verweilte er am 
Rhein und in Altpreußen, in den grandiosen Hallen der gothischen Dome 
und der Ordensburgen. 
Neben solchen Bildern alter deutscher Herrlichkeit blieb in seinem 
Herzen nur wenig Raum für die lebendige preußische Staatsgesinnung. 
König Friedrich's thatenfroher Genius hatte sich den Werdegang der 
deutschen Geschichte so zurechtgelegt, als ob die zwei letzten Jahrhunderte 
immer nur in vergeblichen Anläufen nach einem Ziele gestrebt hätten, das 
jetzt endlich, durch die schlesischen Kriege, erreicht werden sollte. Vor dem 
Künstlerauge dieses jungen Prinzen dagegen gestaltete sich das Bild der 
vaterländischen Vorzeit so wunderreich und prächtig, daß der Staat der 
Gegenwart und die stolzen Hoffnungen der preußischen Zukunft daneben 
fast verschwanden. Der Kronprinz war zuerst ein legitimer, christlicher 
Fürst, dann ein Deutscher und zuletzt ein Preuße. Wohl beglückte ihn der 
Gedanke, daß er dereinst als der Siebzehnte an die erlauchte Reihe von 
sechzehn Kurfürsten und Königen sich anschließen sollte. Aber außer den 
Befreiungskriegen hatten Preußens Annalen doch nur wenige Blätter 
aufzuweisen, die er mit ungemischter Freude betrachten konnte. Im Kampfe 
mit dem Erzhause Oesterreich und den verlogenen Formen der Reichs- 
verfassung, im Kampfe mit der Herrschsucht zeternder Theologen, im Kampfe 
mit dem Sondergeist der Landschaften und der Zuchtlosigkeit der ständischen 
Libertät war dies ganz moderne, weltliche Königthum emporgestiegen. Keiner 
seiner großen Ahnen stand dem Herzen dieses Enkels recht nahe. Die 
Rauheit Friedrich Wilhelm's I. stieß ihn ab, und wie aufrichtig er auch 
Friedrich's persönliche Größe verehrte, mit den Ideen des königlichen Frei- 
geistes, der zuerst den deutschen Dualismus zu lösen gewagt, hatte der 
Nachkomme doch wenig gemein, der seiner Nation nichts Schöneres zu 
wünschen wußte, als die friedliche Zweiherrschaft. 
Auch die beiden kräftigsten Stützen des preußischen Königthums ver- 
stand er nicht ganz zu würdigen. Das Beamtenthum mit seiner gleich- 
mäßigen Ordnung war ihm langweilig, den Verkehr mit den alten Ge- 
heimen Räthen liebte er wenig; er urtheilte über den Formalismus des 
grünen Tisches mit einer Schärfe, die er gegen die Sünden des Adels- 
hochmuths nicht anwendete, und von allen Wissenschaften war ihm wohl 
keine innerlich so fremd wie die Rechtswissenschaft, obwohl er den geist-
	        
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