Der Kronprinz und die Revolution. 125
Geschichte verschwinden müsse, obwohl sie schon längst ihren Namen mit
ehernem Griffel in die Annalen Europas eingetragen hatte.
Mehr und mehr näherte er sich den Anschauungen Haller's und
seiner Schüler, der Brüder Gerlach. Also gerieth er in einen ebenso
tragischen Widerspruch mit den vorwärts drängenden Gedanken des Jahr—
hunderts, wie weiland sein Vorfahr Joachim I., dem er auch in den
Gesichtszügen auffallend ähnelte. So grundverschieden auf den ersten Blick
die beiden Charaktere erscheinen mögen, der harte, praktisch nüchterne, eng-
herzige Joachim und sein begeisterter, liebevoller, unerschöpflich wohlthätiger
Nachkomme: der geistige Hochmuth, die Geringschätzung der lebendigen
Kräfte einer ringenden und gährenden Zeit war Beiden gemeinsam. Wie
Joachim aus der festen Burg seiner canonischen Gelehrsamkeit hoffärtig
herabsah auf den plumpen Wittenberger Mönch, der sich erdreistete, den
kunstvollen Bau so vieler Jahrhunderte zu zerstören, so wollte Friedrich
Wilhelm in den mächtig hereinfluthenden liberalen Ideen nichts sehen als
Dummheit und Bosheit. Gewiß war seine Gesammtansicht vom Staate
tiefsinniger und im Grunde auch freier als die platte Doktrin des liberalen
Vernunftrechts, und auch über viele einzelne politische Fragen urtheilte
er richtiger als die Gegner: er erkannte die Gebrechlichkeit einer auf
Meinungen, nicht auf reale Interessen gestützten Parteibildung und täuschte
sich niemals über den Werth der vielbewunderten constitutionellen Freiheit
Frankreichs. Doch er sah nicht, daß hinter den oft so geistlosen Reden
der liberalen Kammerredner und Publicisten eine lebensvolle, zukunfts-
reiche sociale Kraft stand, der Mittelstand der Nation, dessen Reichthum
und Bildung mit jedem neuen Friedensjahre stetig wuchs. Ihm entging,
daß dieselbe Macht der Geschichte, welche einst die alte ständische Gliederung
geschaffen, schon vor dreihundert Jahren den ersten Stand, den Clerus
aus seiner Herrenstellung verdrängt hatte und seitdem unaufhaltsam daran
arbeitete, auch die anderen ständischen Gegensätze zu mildern. Und wie
einst jener Joachim mit aller seiner Klugheit und Strenge nicht verhindern
konnte, daß gleich nach seinem Tode die evangelische Lehre in die Marken
einzog, so sollte diesem Enkel noch das härtere Schicksal werden, daß er
selber den so tief verachteten constitutionellen Ideen die Thore seines
Staates öffnen mußte.
Wer könnte ohne schmerzliche Bewegung das Bild dieses zum Mar-
tyrium ausersehenen Fürsten betrachten? Zu allem Herrlichen schien er
geboren, verschwenderisch hatte ihm die Natur Kopf und Herz ausgerüstet;
nur jene einfachen, massiven Gaben, die den Staatsmann machen, blieben
ihm versagt. Ihm fehlte der Sinn für das Wirkliche, der die Dinge
sieht wie sie sind, und der geradaus das Wesentliche treffende schlichte
Menschenverstand. Wie schwer fiel es doch diesem Künstler der Rede,
dessen gesprochenes Wort so Viele bestach, in seinen Denkschriften und
Briefen bestimmt zu sagen, was er eigentlich wollte. Durch gehäufte Aus-