Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Der Kronprinz und die Revolution. 125 
Geschichte verschwinden müsse, obwohl sie schon längst ihren Namen mit 
ehernem Griffel in die Annalen Europas eingetragen hatte. 
Mehr und mehr näherte er sich den Anschauungen Haller's und 
seiner Schüler, der Brüder Gerlach. Also gerieth er in einen ebenso 
tragischen Widerspruch mit den vorwärts drängenden Gedanken des Jahr— 
hunderts, wie weiland sein Vorfahr Joachim I., dem er auch in den 
Gesichtszügen auffallend ähnelte. So grundverschieden auf den ersten Blick 
die beiden Charaktere erscheinen mögen, der harte, praktisch nüchterne, eng- 
herzige Joachim und sein begeisterter, liebevoller, unerschöpflich wohlthätiger 
Nachkomme: der geistige Hochmuth, die Geringschätzung der lebendigen 
Kräfte einer ringenden und gährenden Zeit war Beiden gemeinsam. Wie 
Joachim aus der festen Burg seiner canonischen Gelehrsamkeit hoffärtig 
herabsah auf den plumpen Wittenberger Mönch, der sich erdreistete, den 
kunstvollen Bau so vieler Jahrhunderte zu zerstören, so wollte Friedrich 
Wilhelm in den mächtig hereinfluthenden liberalen Ideen nichts sehen als 
Dummheit und Bosheit. Gewiß war seine Gesammtansicht vom Staate 
tiefsinniger und im Grunde auch freier als die platte Doktrin des liberalen 
Vernunftrechts, und auch über viele einzelne politische Fragen urtheilte 
er richtiger als die Gegner: er erkannte die Gebrechlichkeit einer auf 
Meinungen, nicht auf reale Interessen gestützten Parteibildung und täuschte 
sich niemals über den Werth der vielbewunderten constitutionellen Freiheit 
Frankreichs. Doch er sah nicht, daß hinter den oft so geistlosen Reden 
der liberalen Kammerredner und Publicisten eine lebensvolle, zukunfts- 
reiche sociale Kraft stand, der Mittelstand der Nation, dessen Reichthum 
und Bildung mit jedem neuen Friedensjahre stetig wuchs. Ihm entging, 
daß dieselbe Macht der Geschichte, welche einst die alte ständische Gliederung 
geschaffen, schon vor dreihundert Jahren den ersten Stand, den Clerus 
aus seiner Herrenstellung verdrängt hatte und seitdem unaufhaltsam daran 
arbeitete, auch die anderen ständischen Gegensätze zu mildern. Und wie 
einst jener Joachim mit aller seiner Klugheit und Strenge nicht verhindern 
konnte, daß gleich nach seinem Tode die evangelische Lehre in die Marken 
einzog, so sollte diesem Enkel noch das härtere Schicksal werden, daß er 
selber den so tief verachteten constitutionellen Ideen die Thore seines 
Staates öffnen mußte. 
Wer könnte ohne schmerzliche Bewegung das Bild dieses zum Mar- 
tyrium ausersehenen Fürsten betrachten? Zu allem Herrlichen schien er 
geboren, verschwenderisch hatte ihm die Natur Kopf und Herz ausgerüstet; 
nur jene einfachen, massiven Gaben, die den Staatsmann machen, blieben 
ihm versagt. Ihm fehlte der Sinn für das Wirkliche, der die Dinge 
sieht wie sie sind, und der geradaus das Wesentliche treffende schlichte 
Menschenverstand. Wie schwer fiel es doch diesem Künstler der Rede, 
dessen gesprochenes Wort so Viele bestach, in seinen Denkschriften und 
Briefen bestimmt zu sagen, was er eigentlich wollte. Durch gehäufte Aus-
	        
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