Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Die Provinzialstände. 241 
die Stimmenzahl u. dgl. durch Specialgesetze für jede einzelne Provinz 
festgestellt werden? Oder sollte jede Provinz ihre eigene Verfassungs— 
urkunde erhalten? Offenbar sprach die Natur der Dinge wie die alte 
preußische Tradition für die erstere Form, die auch von den beiden Präsi— 
denten lebhaft vertheidigt wurde. Man war ja entschlossen, allen Pro- 
vinzen eine im Wesentlichen gleichförmige Verfassung zu geben; für die 
geringfügigen Abweichungen von der Regel genügten kurze Specialgesetze. 
Aber die historische Doktrin verwarf Alles, was einer preußischen Ver- 
fassung auch nur ähnlich sah. „Ein solches allgemeines Gesetz“, meinte 
Ancillon, „würde den modischen, papierenen, aus dem Stegreif erschaffenen 
Verfassungen, als etwas ganz Neuem, ähnlich sein; jede Provinz soll 
ihre eigene vollständige Charte erhalten, eine Ehre und Wohlthat, die 
eine jede gewiß hoch erfreuen werden.“ Noch bestimmter schrieb Schuck- 
mann: „Ein allgemeines Gesetz würde als die in der Verordnung vom 
22. Mai angekündigte Verfassungsurkunde betrachtet werden und aus 
diesem Gesichtspunkte den bittersten Urtheilen bloßgestellt sein.“ Zu.letzt 
kam wieder ein Compromiß zu Stande, im Wesentlichen der Meinung 
des historischen Particularismus entsprechend. Ein allgemeines Gesetz von 
wenigen Zeilen, das Niemand für eine Verfassungsurkunde halten konnte, 
verkündigte die Errichtung der Provinzialstände; darauf folgten acht um- 
fängliche Provinzialverfassungen, welche, bis auf kleine Abweichungen, acht- 
mal dieselben Sätze wiederholten, und diese „Charten“, mit Ancillon zu 
reden, standen leider auch auf Papier! 
Und waren es denn wirklich die historischen Landtage, die man 
wiederherstellte? So lange es nur galt die Pläne des Staatskanzlers 
zu durchkreuzen, war es ein Leichtes, für die unantastbaren Rechte alt- 
historischer ständischer Verbände sich zu begeistern. Sobald man selber an 
das Schaffen ging, drängten sich die Bedürfnisse des modernen Staats 
auch den historischen Doktrinären unabweisbar auf. Die Geschichte des 
neuen Jahrhunderts forderte ihr Recht von der älteren Geschichte. Alle 
Institutionen des Staates hingen fest mit der neuen Provinzialeintheilung 
zusammen, vornehmlich das Steuersystem. Der Antheil der Altmark an 
der Klassensteuer war bereits in der Gesammt-Steuersumme der Provinz 
Sachsen verrechnet; riß man nun, nach dem „historischen Princip“, die 
altmärkischen Stände aus dem sächsischen Provinziallandtage heraus, um 
sie dem brandenburgischen einzufügen, wie sollten dann die branden- 
burgischen Provinzialstände für die Repartition der altmärkischen Steuern 
sorgen? Schon die Verordnung vom 30. April 1815 hatte die provinzial- 
ständischen Angelegenheiten für Provinzialsachen erklärt und sie der Aufsicht 
der Oberpräsidenten unterstellt. Darin lag keineswegs Willkür; denn die 
neuen Provinzen durften mit besserem Recht historische Körper heißen als 
die alten Territorien, sie ruhten auf der lebendigen Gemeinschaft der 
Stammesart und Sitte, der Erinnerungen und des Verkehrs. Mit diesen 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 16
	        
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