Die Provinzialstände. 241
die Stimmenzahl u. dgl. durch Specialgesetze für jede einzelne Provinz
festgestellt werden? Oder sollte jede Provinz ihre eigene Verfassungs—
urkunde erhalten? Offenbar sprach die Natur der Dinge wie die alte
preußische Tradition für die erstere Form, die auch von den beiden Präsi—
denten lebhaft vertheidigt wurde. Man war ja entschlossen, allen Pro-
vinzen eine im Wesentlichen gleichförmige Verfassung zu geben; für die
geringfügigen Abweichungen von der Regel genügten kurze Specialgesetze.
Aber die historische Doktrin verwarf Alles, was einer preußischen Ver-
fassung auch nur ähnlich sah. „Ein solches allgemeines Gesetz“, meinte
Ancillon, „würde den modischen, papierenen, aus dem Stegreif erschaffenen
Verfassungen, als etwas ganz Neuem, ähnlich sein; jede Provinz soll
ihre eigene vollständige Charte erhalten, eine Ehre und Wohlthat, die
eine jede gewiß hoch erfreuen werden.“ Noch bestimmter schrieb Schuck-
mann: „Ein allgemeines Gesetz würde als die in der Verordnung vom
22. Mai angekündigte Verfassungsurkunde betrachtet werden und aus
diesem Gesichtspunkte den bittersten Urtheilen bloßgestellt sein.“ Zu.letzt
kam wieder ein Compromiß zu Stande, im Wesentlichen der Meinung
des historischen Particularismus entsprechend. Ein allgemeines Gesetz von
wenigen Zeilen, das Niemand für eine Verfassungsurkunde halten konnte,
verkündigte die Errichtung der Provinzialstände; darauf folgten acht um-
fängliche Provinzialverfassungen, welche, bis auf kleine Abweichungen, acht-
mal dieselben Sätze wiederholten, und diese „Charten“, mit Ancillon zu
reden, standen leider auch auf Papier!
Und waren es denn wirklich die historischen Landtage, die man
wiederherstellte? So lange es nur galt die Pläne des Staatskanzlers
zu durchkreuzen, war es ein Leichtes, für die unantastbaren Rechte alt-
historischer ständischer Verbände sich zu begeistern. Sobald man selber an
das Schaffen ging, drängten sich die Bedürfnisse des modernen Staats
auch den historischen Doktrinären unabweisbar auf. Die Geschichte des
neuen Jahrhunderts forderte ihr Recht von der älteren Geschichte. Alle
Institutionen des Staates hingen fest mit der neuen Provinzialeintheilung
zusammen, vornehmlich das Steuersystem. Der Antheil der Altmark an
der Klassensteuer war bereits in der Gesammt-Steuersumme der Provinz
Sachsen verrechnet; riß man nun, nach dem „historischen Princip“, die
altmärkischen Stände aus dem sächsischen Provinziallandtage heraus, um
sie dem brandenburgischen einzufügen, wie sollten dann die branden-
burgischen Provinzialstände für die Repartition der altmärkischen Steuern
sorgen? Schon die Verordnung vom 30. April 1815 hatte die provinzial-
ständischen Angelegenheiten für Provinzialsachen erklärt und sie der Aufsicht
der Oberpräsidenten unterstellt. Darin lag keineswegs Willkür; denn die
neuen Provinzen durften mit besserem Recht historische Körper heißen als
die alten Territorien, sie ruhten auf der lebendigen Gemeinschaft der
Stammesart und Sitte, der Erinnerungen und des Verkehrs. Mit diesen
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 16