Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

362 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. 
gestürzten Minister sein Wohlwollen nie ganz entzogen, er nannte ihn den 
fähigsten seiner Staatsmänner; allein dasselbe Bedenken, das schon vor 
fünf Jahren Humboldt's Berufung ins Auswärtige Amt verhindert hatte, 
schien auch jetzt noch unüberwindlich. Preußens Friedenspolitik stand und 
fiel mit dem Bunde der Ostmächte, und Friedrich Wilhelm traute sich die 
Kraft nicht zu, einen Mann, der in Petersburg und Wien gleich verhaßt 
war, an der Spitze seines Ministerraths zu halten. Etwas stilles Miß- 
trauen und die alte Schen vor genialen Naturen mochten wohl mitwirken; 
genug, der König erklärte diese Ernennung für unmöglich. 
In seiner Verlegenheit berief er sodann den alten Feldmarschall Kleist 
von Nollendorf, der bisher dem politischen Leben fern gestanden, doch schon 
vor Jahren als Generaladjutant durch seine Rechtschaffenheit und maß- 
volle Ruhe sich das persönliche Vertrauen des Monarchen erworben hatte. 
Aber auch er starb plötzlich, noch bevor er sein Amt angetreten hatte, und 
da der König sonst keinen geeigneten Mann zu finden wußte, so kam er jetzt 
auf einen Gedanken zurück, der ihm schon nach Voß's Tode aufgestiegen 
war. Er wollte fortan ohne einen leitenden Staatsmann, allein durch 
Fachminister regieren. Der regelmäßige Vortrag beim König wurde dem 
Grafen Lottum übertragen, der im Ministerrathe verblieb, aber die Ver- 
waltung des Staatsschatzes dem Finanzminister abtrat.“) Der reiche Graf 
bewährte sich als fleißiger, gewissenhafter Berichterstatter; seine vornehme 
Gelassenheit, sein allen Ränken unzugänglicher Gradsinn sagten dem 
Monarchen zu, er behielt sein Amt bis zu Friedrich Wilhelm's Tode. 
Großen politischen Ehrgeiz hegte er nicht, selbst den Titel eines Cabinets- 
ministers hat er niemals erhalten. Im Uebrigen blieb das Ministerium 
unverändert, obgleich Hardenberg in einer hinterlassenen Denkschrift die 
Berufung neuer Kräfte dringend angerathen hatte. 
Also folgte auf die Tage der Staatskanzlerschaft wieder eine Zeit 
königlicher Selbstregierung. Der Wille des Monarchen allein hielt die 
Minister zusammen, Alles hing an seiner Entscheidung. Nur seine Ver- 
trauten Wittgenstein, Witzleben, Albrecht bestimmten zuweilen seinen Ent- 
schluß, noch seltener der alte Oberhofmarschall Schilden, der Morgens 
über den Hofhalt kurzen Vortrag hielt und sich dann und wann einen 
politischen Rathschlag erlauben durfte. Eine solche Regierung konnte nur 
in einer Epoche tiefen Friedens genügen; Kraft, Einheit, rasche Entschlie- 
Khung zeigte sie selten. Da der König weder rücksichtslos durchzugreifen 
liebte, noch die gesammte Verwaltung zu übersehen vermochte, so wucherte 
die alte Sünde des Beamtenthums, der Sondergeist der Departements, 
wieder fröhlich auf. Jeder Fachminister ging so weit er konnte seines eigenen 
*) Witzleben's Tagebuch, 31. Jan. 1823. Aus dieser Quelle stammt die Er- 
zählung bei Dorow, Erlebtes III. 328.
	        
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