Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Die sieben Kreisordnungen. 373 
stürmische Bewegung. Selbstsucht, Neid, Uebermuth, alle die häßlichen 
Leidenschaften der Klassenkämpfe brachen ohne Scheu hervor. Der Kern 
der Sache wurde kaum berührt, da noch keine Partei über die schwierigen 
Aufgaben der ländlichen Selbstverwaltung ernstlich nachgedacht hatte. Noch 
fand sich Niemand, der dem preußischen Adel gesagt hätte, daß es für ihn 
hohe Zeit sei, die feudale Machtstellung mit der communalen zu ver- 
tauschen, die Geschäfte der Kreisverwaltung selber auf seine Schultern zu 
nehmen und sich also statt des gehässigen Vorrechts der Virilstimmen einen 
unbeneideten und darum gesicherten Einfluß auf dem flachen Lande zu 
erwerben. Der Kampf bewegte sich wesentlich um die Frage des Stimm- 
rechts, Stand stritt gegen Stand. Dem brandenburgischen Adel gingen 
die Vorschläge der Regierung noch nicht weit genug. Hier auf dem Ber- 
liner Landtage stand der Adelshochmuth in voller Blüthe. Obgleich viele 
dieser stolzen märkischen Junker auf ihren Gütern ein wohlwollendes Re- 
giment führten und Marwitz selbst von seinen Friedersdorfer Gutsunter- 
thanen wie ein Vater geliebt wurde, so betrachteten sie doch jeden Versuch, 
die Rechte der Bauern zu erweitern, als ein revolutionäres Unternehmen 
und bewilligten sogar den bäuerlichen Mitgliedern des Provinziallandtags 
nur die Hälfte der ritterschaftlichen Tagegelder — was der König sofort 
abstellen ließ. Darum verlangten sie auch, daß die Bauern auf den Kreis- 
tagen nur eine, höchstens zwei Stimmen erhalten sollten. 
Welch ein Abstand zwischen dieser märkischen Engherzigkeit und dem 
kräftigen Gemeinsinn der Preußen! Dort im Ordenslande hatte sich die 
Ritterschaft längst gewöhnt die kölmischen Grundbesitzer als Ihresgleichen zu 
betrachten; sie beantragte selber, daß der Landrath durch den gesammten 
Kreistag gewählt werde, sonst verliere er das Vertrauen des Kreises und 
die beiden unteren Stände müßten sich gekränkt fühlen. In den anderen 
Provinzen bestand die Ritterschaft fast durchweg hartnäckig auf ihrem 
historischen Rechte, während die Bauern, meist sehr aufgeregt, Antheil an 
den Landrathswahlen und eine gerechtere Vertheilung der Stimmenzahl 
forderten. Ueberall nahmen die Städte, in Sachsen sogar der Stand der 
Fürsten, Partei für die Bauernschaft; in Westphalen war der clericale 
Westphalus Eremita Sommer ihr eifriger Wortführer. Der König indeß 
wies alle Abänderungsvorschläge zurück. Man merkte ihm wohl an, daß 
er, schlicht bürgerlich wie er war, die Wünsche der Bauern keineswegs 
mißbilligte; der preußischen Ritterschaft sprach er sogar seine Anerkennung 
aus für ihren löblichen Gemeinsinn. Jedoch er vermochte mit seiner mangel- 
haften Rechtskenntniß sich gegen die historische Rechtsdoktrin des Kron- 
prinzen nicht zu wehren und beschwichtigte die Klagenden durch die Ver- 
sicherung: auf die Stimmenzahl der Kreistage komme wenig an, da jedem 
Stande frei stehe in Theile zu gehen. 
So kamen denn in den Jahren 1825—28 sieben neue Kreisord- 
nungen zu Stande, eine gemeinsame für Rheinland-Westphalen und je
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.