Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Die Stände wider die Gewerbefreiheit. 377 
zu entledigen suchen — ein verzweifelter Rath, der schon manchen Klein- 
müthigen als das letzte Heilmittel für alle socialen Nöthe galt. 
Selbst Unbefangene mußten zugestehen, daß auf dem preußischen Markte 
neben dem Segen auch der Fluch der Freiheit sich schon zeigte. Der 
unbeschränkte Wettbewerb stachelte die Thätigkeit, beförderte die Fortschritte 
der Technik. Die großen auf Vorrath arbeitenden Geschäfte blühten, aber 
der kleine Meister ward durch die Uebermacht des Capitals erdrückt; im 
Jahre 1831 konnten von den 1088 Tischlermeistern Berlins 640 keine 
Gewerbesteuer zahlen. Und wie leichtsinnig hatte Hardenberg mit den 
unhaltbaren Vorrechten der alten Zünfte auch alle die sittlichen Bande 
zerstört, welche das Handwerk noch zusammenhielten. Die Zünfte, die 
jetzt noch da und dort als freie Genossenschaften fortbestanden, entbehrten 
des Ansehens und der Lebenskraft; der tapfere Handwerksstolz, die alte 
strenge Zucht und Sitte verfielen, die Erziehung der Lehrlinge blieb dem 
guten Glücke anheimgestellt. Hier lag der Grund, warum Stein, den 
man jetzt mit Unrecht der Sinnesänderung zieh, immer nur eine Reform 
des Zunftwesens gefordert und die Auflösung der Zünfte von vornherein 
als seichten, rechtlosen „Neologism“ bekämpft hatte. Was galten ihm 
technische Fortschritte neben der sittlichen Entwicklung des Volkes, dem 
eigentlichen Zwecke des Staates? Mit flammendem Eifer trat er für 
seine Ansicht ein, und Gneisenau fürchtete schon, der Freiherr werde im 
Staatsrathe mit Hilfe des Kronprinzen die gesammte neue Gewerbegesetz- 
gebung über den Haufen werfen; „an ihn," so schrieb er, „einen solchen 
Bekehrten wird sich eine zahlreiche Phalanx eifriger Bekenner, in Schutz 
genommen von einer hohen Person, anschließen; ich nicht.““) 
Die Gefahr einer unbedachten Reaktion lag sehr nahe. Die Regie- 
rung aber blieb ruhig, und die Stimmung der Rheinländer, denen die 
Gewerbefreiheit schon in Fleisch und Blut gedrungen war, bot ihr einen 
festen Rückhalt. Sie hielt die bestehende Ordnung vorläufig aufrecht, 
gewährte den früheren Berechtigten durch eine Declaration billige Ent- 
schädigung und ließ sodann in mühseliger Arbeit eine Gewerbeordnung für 
den gesammten Staat vorbereiten, welche den begründeten Beschwerden 
Abhilfe bringen, aber die Grundgedanken der Hardenbergischen Gesetzgebung 
nicht aufgeben sollte. J. G. Hoffmann, dem diese Aufgabe zunächst zufiel, 
hatte in seinen jungen Jahren das Zunftwesen mit dem ganzen Radica- 
lismus der neuen Volkswirthschaftslehre bekämpft und den Corporations-- 
geist schlechthin für den Feind des Gemeingeistes erklärt. Seitdem war 
er über „das unselige laisser faire der Jünger Mercurs"“ längst ins Klare 
gekommen und bemühte sich nun bedachtsam die Frage zu beantworten, 
ob es möglich sei, in freien Innungen den sittlichen Inhalt der alten 
Zünfte, ihr ehrenhaftes Genossenschaftsleben wieder zu beleben ohne den 
  
*) Gneisenau an Schön, 24. Febr. 1827.
	        
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