Der rheinisch-westphälische Protestantismus. 403
neben der gemeinsamen Ordnung auch das örtliche Herkommen gelten
ließen, in jeder Landschaft den Gebrauch altgewohnter liturgischer Formen
gestatteten. Nach diesem Zugeständniß gaben Schleiermacher und seine
Freunde ihren Widerspruch auf, denn nunmehr konnte Jeder, der auf dem
Boden der Union stand, sich unbedenklich der neuen Ordnung fügen. · Am
Jubelfeste der Augsburger Confession, 1830, erlebte der König die Freude,
daß die Agende im weitaus größten Theile der Monarchie angenommen
und damit, wie er sagte, die Union der Vollendung näher geführt war.
Am längsten widerstand der Westen. Hier in Cleve-Berg und Mark
hatte der Protestantismus einst ganz aus eigener Kraft, unabhängig von
der Landesherrschaft, seine ersten Wurzeln geschlagen und sich nach dem
Vorbilde der benachbarten Niederländer eine freie Verfassung geschaffen,
die unter der Fremdherrschaft verfallen, aber noch in ihren Trümmern
dem evangelischen Volke theuer war. Altenstein selbst mußte einsehen,
diese der Selbständigkeit gewohnten Protestanten würden sich niemals zur
Annahme der Agende verstehen, wenn man ihnen nicht ihre Presbyterien
und Synoden wiederherstellte. So ward denn hier allein die Kirche selbst
befragt, wie es dem Geiste der Reformation entsprach. Auf den Rath des
Bischofs Roß, der sich seiner Landsleute wacker annahm, beschloß der
König im Jahre 1835, mit der verbesserten Agende zugleich eine Neu—
ordnung der Kirchenverfassung in Rheinland und Westphalen einzuführen,
und der Erfolg bewies, daß hier endlich der rechte Weg betreten war.
Diese Kirchengemeinschaft des Westens blieb viele Jahre hindurch das
gesundeste Glied der preußischen Landeskirche, die Heimstätte eines ernsten
und freien Protestantismus, der inmitten der übermächtigen katholischen
Nachbarschaft immer rührig auf der Wacht stand. In der brüderlichen
Arbeit ihrer kirchlichen Selbstverwaltung wirkten scharfe confessionelle
Gegensätze, pfälzische und clevische Reformirte, ravensbergische Lutheraner
und die Gottseligen des Wupperthales einträchtig zusammen. Aus den
Erfahrungen dieser rheinischen Synoden bildete sich Karl Immanuel
Nitzsch seine Reformpläne für die Verfassung der evangelischen Landes-
kirche. Der fromme Wittenbergische Lutheraner lernte hier als Lehrer
und Prediger an der rheinischen Hochschule das freie Gemeindeleben der
Reformirten kennen und lieben. In jungen Jahren schon eine ehrfurcht-
gebietende Erscheinung, tief gelehrt und kindlich bescheiden, errang er sich
bald ein unbestrittenes Ansehen unter den rheinischen Protestanten und
überwand die letzten Vertreter des alten Rationalismus, der am Rhein
niemals recht heimisch geworden war, durch die stille Gewalt seiner milden,
sinnigen Beredsamkeit. Ueber die Agende urtheilte Nitzsch billiger als
Schleiermacher, weil er die Nothwendigkeit eines geregelten Cultus aner-
kannte; aber „den Teufel der politischen Hierarchie“ wollte er der Landes-
kirche austreiben. Niemand unter den Zeitgenossen erkannte so klar, daß
die Union nur durch einen Neubau der Kirchenverfassung gesichert werden
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