Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Der rheinisch-westphälische Protestantismus. 403 
neben der gemeinsamen Ordnung auch das örtliche Herkommen gelten 
ließen, in jeder Landschaft den Gebrauch altgewohnter liturgischer Formen 
gestatteten. Nach diesem Zugeständniß gaben Schleiermacher und seine 
Freunde ihren Widerspruch auf, denn nunmehr konnte Jeder, der auf dem 
Boden der Union stand, sich unbedenklich der neuen Ordnung fügen. · Am 
Jubelfeste der Augsburger Confession, 1830, erlebte der König die Freude, 
daß die Agende im weitaus größten Theile der Monarchie angenommen 
und damit, wie er sagte, die Union der Vollendung näher geführt war. 
Am längsten widerstand der Westen. Hier in Cleve-Berg und Mark 
hatte der Protestantismus einst ganz aus eigener Kraft, unabhängig von 
der Landesherrschaft, seine ersten Wurzeln geschlagen und sich nach dem 
Vorbilde der benachbarten Niederländer eine freie Verfassung geschaffen, 
die unter der Fremdherrschaft verfallen, aber noch in ihren Trümmern 
dem evangelischen Volke theuer war. Altenstein selbst mußte einsehen, 
diese der Selbständigkeit gewohnten Protestanten würden sich niemals zur 
Annahme der Agende verstehen, wenn man ihnen nicht ihre Presbyterien 
und Synoden wiederherstellte. So ward denn hier allein die Kirche selbst 
befragt, wie es dem Geiste der Reformation entsprach. Auf den Rath des 
Bischofs Roß, der sich seiner Landsleute wacker annahm, beschloß der 
König im Jahre 1835, mit der verbesserten Agende zugleich eine Neu— 
ordnung der Kirchenverfassung in Rheinland und Westphalen einzuführen, 
und der Erfolg bewies, daß hier endlich der rechte Weg betreten war. 
Diese Kirchengemeinschaft des Westens blieb viele Jahre hindurch das 
gesundeste Glied der preußischen Landeskirche, die Heimstätte eines ernsten 
und freien Protestantismus, der inmitten der übermächtigen katholischen 
Nachbarschaft immer rührig auf der Wacht stand. In der brüderlichen 
Arbeit ihrer kirchlichen Selbstverwaltung wirkten scharfe confessionelle 
Gegensätze, pfälzische und clevische Reformirte, ravensbergische Lutheraner 
und die Gottseligen des Wupperthales einträchtig zusammen. Aus den 
Erfahrungen dieser rheinischen Synoden bildete sich Karl Immanuel 
Nitzsch seine Reformpläne für die Verfassung der evangelischen Landes- 
kirche. Der fromme Wittenbergische Lutheraner lernte hier als Lehrer 
und Prediger an der rheinischen Hochschule das freie Gemeindeleben der 
Reformirten kennen und lieben. In jungen Jahren schon eine ehrfurcht- 
gebietende Erscheinung, tief gelehrt und kindlich bescheiden, errang er sich 
bald ein unbestrittenes Ansehen unter den rheinischen Protestanten und 
überwand die letzten Vertreter des alten Rationalismus, der am Rhein 
niemals recht heimisch geworden war, durch die stille Gewalt seiner milden, 
sinnigen Beredsamkeit. Ueber die Agende urtheilte Nitzsch billiger als 
Schleiermacher, weil er die Nothwendigkeit eines geregelten Cultus aner- 
kannte; aber „den Teufel der politischen Hierarchie“ wollte er der Landes- 
kirche austreiben. Niemand unter den Zeitgenossen erkannte so klar, daß 
die Union nur durch einen Neubau der Kirchenverfassung gesichert werden 
26.
	        
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