Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

476 III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. 
fast gänzlich verschließen und bereits am 1. Mai in Kraft treten sollte. 
Also wurde die Zusatzakte durch Rußland mit einem offenbar längst vor- 
bereiteten Gewaltstreiche eigenmächtig außer Kraft gesetzt; um den Vertrags- 
bruch nothdürftig zu bemänteln, hatte man allerdings hinzugefügt, an der 
preußischen Grenze sollten die neuen Zölle erst vom nächsten Neujahr ab 
gelten, damit unterdessen eine neue Vereinbarung mit dem Berliner Hofe 
geschlossen werden könne. In Berlin mußte man zwar auf die Kündigung 
des Vertrages jederzeit gefaßt sein, da kein Staat seine Handelspolitik 
auf immer dem Willen einer fremden Macht unterwerfen kann; aber die 
grobe Rücksichtslosigkeit des russischen Verfahrens erregte berechtigten 
Unmuth, und als ein erster Verständigungsversuch erfolglos blieb, schritt 
der Finanzminister (1823) zu Retorsionen, indem er an der russischen 
Grenze die Getreide= und Viehzölle bis auf das Zwei= und Dreifache 
erhöhte. Mehrere seiner kundigen Räthe bezweifelten freilich von Haus aus, 
ob diese Abwehr helfen werde, und der Erfolg gab leider den Zweifelnden 
Recht..) Inzwischen hatte Cancrin förmlich die Leitung des russischen 
Finanzwesens erhalten, und sofort trat sein Restriktionssystem, wie er es 
nannte, vollständig in Wirksamkeit. Die Grenzsperre sicherte den Markt 
für eine künstlich gepflegte Staatsindustric, ebenso künstlich ward der Staats- 
credit gehoben durch grundsätzliche Vernachlässigung des Privatcredits. Der 
finanzielle Erfolg des neuen Systems war glänzend; schon im ersten Jahre 
seiner Verwaltung gelang dem kraftvollen Minister die Beseitigung des 
Deficits, er gewann das Vertrauen des Czaren so schnell, daß er bereits 
namhafte Ersparnisse im Hofhalt und Heerwesen durchsetzen konnte. Erst 
die Zukunft sollte erfahren, auf wie schwachen Füßen die so gewaltsam 
emporgetriebenen Staatsgewerbe standen. 
Preußen aber war in peinlicher Verlegenheit: man hatte viel von 
dem unbequemen Nachbarn zu fordern und konnte ihm nur wenig bieten. 
Die Kampfzölle bewährten sich nicht, weil die Getreideeinfuhr ohnehin fast 
ganz aufgehört hatte. Neue Verhandlungen begannen, und da Klewitz nicht 
der Mann war, den Grafen Bernstorff gegen den gewandten russischen 
Unterhändler Mohrenheim wirksam zu unterstützen, so kam am 11. März 
1825 ein für Deutschland sehr ungünstiger zweiter Handelsvertrag zu 
Stande: Preußen nahm seine Kampfzölle zurück und erlangte dafür 
einige sehr geringfügige Erleichterungen zu Gunsten seiner Tücher u. dgl.; 
im Uebrigen blieb die vollendete Thatsache der russischen Grenzsperre 
unangetastet. Wenn schon das russische Volk dem gestrengen Minister 
fluchte, so erklangen die Verwünschungen in den preußischen Grenzprovinzen 
noch lauter. Dort lag der gesetzmäßige Verkehr mit dem Nachbarlande 
ganz darnieder, da die Grenzämter die hohen Zollsätze nicht einmal 
gewissenhaft einhielten; dafür blühte, gefördert durch die Bestechlichkeit 
  
*) Meyern's Bericht, Berlin 19. April 1823.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.