Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

508 III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland. 
väter die Wage gehalten hatte. Dies ward jetzt anders, da Graf Einsiedel 
als streng orthodoxer Lutheraner den Ansprüchen des katholischen Clerus 
sehr freundlich entgegenkam. Die Vorliebe des Ministers für den Prediger 
Stephan, der in der Böhmischen Kirche zu Dresden eine fanatische Sekte 
um sich versammelte und späterhin als gemeiner Heuchler entlarvt wurde, 
erregte im Lande berechtigten Unwillen und verstimmte die öffentliche Mei— 
nung dermaßen, daß man dem unbeliebten Manne sogar seine Theilnahme 
an der Bibelgesellschaft, an dem Missionsvereine und ähnlichen unschuldigen 
christlichen Liebeswerken verdachte. Denn ganz unumschränkt herrschte noch 
im obersächsischen Volke der lutherische Rationalismus des alten Jahr— 
hunderts, der von der evangelischen Union nichts wissen wollte, aber auch 
jede Regung streng kirchlichen Sinnes mit der äußersten Unduldsamkeit 
als Muckerei und Pfaffenthum bekämpfte. Die Verbreitung orthodoxer 
Traktätchen war unter Ammon's rationalistischem Kirchenregimente streng 
untersagt. Die Conventikel des Grafen Dohna, eines Enkels von Zinzen— 
dorf, und die Schüler Schubert's, die gottseligen armen Weber im Erz- 
gebirge mußten sich ebenso still halten wie die Brüdergemeinden, die in 
einem lieblichen Winkel der Lausitz ihr Pella-Herrnhut gegründet hatten. 
Neben dem Cabinet bestanden der Geheime Rath, mit lediglich be— 
rathenden Befugnissen, und die Centralbehörde für Justiz und Polizei, die 
unförmliche Landesregierung. Im Finanzwesen herrschte noch ungebrochen 
der Dualismus des altständischen Staates. Das königliche Geheime Finanz- 
Collegium verwaltete die Domänen, das zum Theil durch den Landtag 
besetzte Obersteuercollegium die Mehrzahl der Abgaben; die Streitigkeiten 
zwischen Finanz-Aerar und Steuer-Aerar nahmen kein Ende. In den 
Aemtern führten die Amtshauptleute die Verwaltung, Staatsbeamte aus 
dem angesessenen Adel, den preußischen Landräthen ähnlich. Die Ritter- 
schaft aber fragte wenig nach ihnen; sie übte auf ihren Gütern eine fast 
unbeschränkte Polizeigewalt, ließ Recht sprechen durch Patrimonialrichter, 
welche der Gerichtsherr nach Belieben entlassen durfte, und beherrschte 
ihre Hintersassen durch den Gesindezwang, durch schwere Grundlasten, 
Zehnten und Frohnden. In der Lausitz bestand sogar noch die Erbunter- 
thänigkeit. Vollends in den Receßherrschaften des Hauses Schönburg be- 
saß die Krone nicht viel mehr als den Namen der Landeshoheit; sie erhob 
bis in die zwanziger Jahre hinein Aus= und Einfuhrzölle an den Grenzen 
dieses Vasallenländchens. Kaum minder selbstherrlich schaltete der Graf 
Solms- Wildenfels in seiner winzigen Standesherrschaft; der pflegte die 
Offiziere der benachbarten Zwickauer Garnison, wenn sie ihn besuchten, 
neugierig zu fragen: wie steht's denn bei Euch drüben in Sachsen? 
Auch die Städte fühlten sich als Staaten im Staate; ihre Stadt- 
räthe ergänzten sich selbst, wie einst in Preußen vor den Reformen Friedrich 
Wilhelm's I., und bestanden in den großen Städten ausschließlich aus 
Juristen. In Leipzig und Dresden war der Rath, kraft der Privilegien
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.