540 III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
welfischen Geschichte hoch angesehenen bürgerlichen Beamten allmählich
ausgeschlossen; die obersten Staatswürden blieben den verschwiegerten
Adelsgeschlechtern der Platen, Grote, Münchhausen, Bremer vorbehalten.
Die Arbeitslast des Regiments dagegen trugen bürgerliche Cabinets- und
Ministerialräthe, meist aus den „schönen Familien“ der Brandes, Patje,
Rehberg, Hoppenstedt, fast durchweg hochgebildete, geschäftskundige Männer,
deren Ueberlegenheit der welfische Edelmann selber stillschweigend aner—
kannte indem er von einem Vetter oder Oheim harmlos zu sagen pflegte:
„er war Minister unter dem Cabinetsrath Rehberg“. Die streng conser—
vative Gesinnung, welche dies bürgerliche „Secretariat“ mit dem Adel
theilte, konnte doch nicht verhindern, daß sich allmählich im Bürgerthum
ein starker, berechtigter Groll gegen die bevorzugten Edelleute ansammelte.
Die Regierung war mild, da sie aus dem Vollen wirthschaftete und der
fiscalischen Strenge der preußischen Verwaltung nicht bedurfte; sie bewies
durch die großartige Stiftung der Georgia Augusta, wie hoch sie die idealen
Güter des Lebens schätzte. Doch der heilige Grundsatz, keine Ombrage zu
erregen, ward auch im Innern ängstlich gewahrt. Allen Potentaten durfte
Schlözer in seinen Staatsanzeigen die Wahrheit sagen; erst als er sich
unterstand Mißbräuche im kurhannoverschen Postwesen zu rügen, ward
ihm die Censurfreiheit genommen. Hardenberg's Jugendfreund, Freiherr
v. Berlepsch, derselbe der späterhin gegen den Sultanismus des hessischen
Kurfürsten auftrat, wurde gar abgesetzt und willkürlich des Landes ver—
wiesen, weil er im Landtage die Schwächen des Adelsregiments schonungs-
los aufgedeckt und die Neutralität der calenbergischen Nation während der
Revolutionskriege gefordert hatte.
Selbst unter dieser wohlwollenden Regierung verleugnete der alt—
ständische Staat nicht die Ungerechtigkeit, die ihn überall in Deutschland
mit dem Hasse des Volks belud. Die allerdings mäßigen Staatslasten
lagen fast ausschließlich auf den Schultern der Kleinbürger und der Bauern.
Um keinen Preis wollte der Calenbergische Adel die einzige schwere Ab—
gabe, die er eine Zeit lang getragen hatte, den Zehnt- und Scheffelschatz
wiederherstellen, denn sonst wäre die Landesschuld abgetragen worden und
damit die einträgliche Schuldenverwaltung der Landstände hinweggefallen.
In der Finanzverwaltung der Landtagsausschüsse blühten alle Sünden
des altständischen Regiments: Nepotismus, Heimlichkeit, Sinecuren-
Unwesen. Siebzig Jahre lang blieb es den Ständen Calenbergs verborgen,
daß ihr Ausschuß dem ersten Georg 300,000 Thlr. gezahlt hatte um ihm
zur englischen Krone zu verhelfen. In der deutschen Politik war die
Eifersucht auf Preußen der leitende Gedanke des hannoverschen Geheimen
Raths, obgleich die Natur der Dinge zuweilen ein Bündniß zwischen den
Nachbarstaaten erzwang. Der welfische Stolz vermochte gar nicht einzu-
sehen, warum dies gründlich verachtete arme Nachbarland in den deutschen
Händeln so viel mehr galt als das vornehme England-Hannover. Auch