684 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
Hegel die Geschichte als den Tempel des allgegenwärtigen Gottes ver—
stehen und vergötterte den Staat, den sie einst mißachtet hatte. Zugleich
erklangen die ersten Lärmstöße einer radicalen Literatur, welche durch und
durch tendentiös, allein auf die augenblickliche Wirkung rechnend, an Allem
was bestand mit übermüthigem Hohne rüttelte und dem Traumleben der
Romantik die Fehde ansagte. Das Alles war erst im Werden, aber un-
verkennbar stand die Nation im Begriff mit der ästhetischen Weltan-
schauung, die ihre unvergeßliche Zeit gehabt hatte, gänzlich zu brechen.
Goethe selbst, der in seiner Einsamkeit doch immer die Hand am
Pulse des nationalen Lebens hielt, erkannte diesen realistischen Zug der
Zeit und förderte ihn, indem er in Wilhelm Meister's Wanderjahren den
Gedanken ausführte, welchen schon die Lehrjahre angedeutet hatten: der
Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst
seine Begrenzung bestimmt. Die Odyssee der allgemein menschlichen Bil-
dung endete also mit der modernen Lehre der Arbeitstheilung: daß ein
Jeder Eines recht wissen und ausüben, in sich selber einen Mittelpunkt,
um den Alles kreise, finden solle:
Und Dein Streben, sei's in Liebe,
Und Dein Leben sei die That.
Anfang und Schluß des Romans verhielten sich zu einander wie Jugend
und Alter, wie Poesie und Prosa. Aber weil der Dichter fühlte, daß die
nützliche Thätigkeit für die bürgerliche Gesellschaft an sich noch nicht poetisch
ist, und weil er selber mit allen Fasern seines Wesens in der allseitigen Bil-
dung des alten Jahrhunderts wurzelte, darum wollte und konnte er den
Grundgedanken der Wanderjahre nicht künstlerisch ausgestalten, sondern nur
symbolisch andeuten; er schilderte nicht, wie der thatenfrohe Mann im ein-
seitigen Schaffen sich selber zugleich beschränkt und kräftig auslebt, sondern
ließ seinen Helden in bewußter Entsagung die freie Lebenslust überwinden
und sein Ich vergessen in einem nüchternen Berufe. Für einen Roman
der bürgerlichen Arbeit war in Deutschland die Zeit noch nicht gekommen.
Die heitere Anmuth der eingestreuten Novellen, die plastische Anschaulich-
keit des Bildes der heiligen Familie und vieler anderer Schilderungen
erinnerten an die schönsten Zeiten der Goethischen Muse. Auch die lehr-
haften Abschnitte enthielten neben manchem seltsamen Gedankenspiele eine
Fülle reifer und tiefer Wahrheiten. Wie fühlte sich der junge Ludwig
Nichter in tiefster Seele gepackt, als er hier die Mahnung las: große
Gedanken und ein reines Herz, das ists was wir uns von Gott erbitten
sollten. Wie scharf durchschaute der Dichter die schwerste sittliche Gefahr,
welche dem heranwachsenden Geschlechte drohte, wenn er die Erziehung
zur Ehrfurcht seiner pädagogischen Provinz zur Aufgabe stellte. Aber ein
abgerundetes Kunstwerk gab er nicht; seine alte Neigung zum fragmen-
tarischen Schaffen überwältigte ihn wieder, fast planlos reihte er Alles