Meister's Wanderjahre. 685
aneinander, was er so viele Jahre hindurch über das Problem der Men—
schenbildung gedichtet und gedacht hatte. Die Leser vermochten sich in dem
Irrgarten nicht zurechtzufinden.
Zum ersten male rief eine Dichtung Goethe's allgemeine Enttäuschung
hervor, und nun kamen gute Tage für alle die kleinen Leute, die dem
Dichter seine Größe nicht verzeihen konnten. Während der letzten Jahre,
so lange die Nation noch unter dem frischen Eindruck von Dichtung
und Wahrheit stand, hatten sich die Neider selten herausgewagt. Jetzt
fanden die falschen Wanderjahre, welche der westphälische Pfarrer Pust-
kuchen gleichzeitig mit dem Anfang der echten (1821) in der berüchtigten
Basse'schen Buchhandlung zu Quedlinburg erscheinen ließ, starken Absatz
und selbst in geachteten Zeitschriften ernsthafte Besprechung. Das bos-
hafte Machwerk ahmte den umständlichen Stil des alten Herrn nicht ohne
Geschick nach und bekämpfte seine Unsittlichkeit mit den Gemeinplätzen
der platten Moral. Dann ließ auch Hengstenberg's Kirchenzeitung die
Karthaunen ihres allein wahren Christenthums gegen den großen Heiden
spielen, und in gleichem Sinne schrieb Wolfgang Menzel, der Herausgeber
des mit dem Cotta'schen Morgenblatte verbundenen Literaturblattes. Der
blieb sein Lebelang der alte christlich-germanische Burschenschafter und
rügte mit achtungswerthem Muthe die Verirrungen des weltbürgerlichen,
glaubenlosen Radicalismus. Aber die Grazien hatten nicht an der Wiege
des unliebenswürdigen Mannes gestanden; das classische Alterthum war
ihm nur eine Welt der Sünde, und niemals wollte er den Päpsten ver-
zeihen, daß sie den Vatican mit der schönsten Sculpturensammlung der
Welt geschmückt hatten. So hielt er es denn für Christenpflicht, den
Deutschen ihren ersten Dichter zu verleiden und ließ auch nicht ab in
seinem puritanischen Eifer, als seine Todfeinde, die Radicalen in dasselbe
Horn stießen und den geadelten Fürstenknecht in Weimar mit gesinnungs-
tüchtiger Entrüstung brandmarkten.
Wie vormals Luther und Friedrich, so sah auch Goethe seine letzten
Jahre durch die häßlichste aller deutschen Sünden, durch die ungeheuere
Undankbarkeit der Nation getrübt — eben jetzt, da das Ausland den
Dichter erst zu würdigen begann, da die jungen Schriftsteller des Pariser
Globe die französische Kunst auf die Naturwahrheit Goethe's und Shake-
speare's hinwiesen, und der einzige Brite der Deutschland ganz verstanden
hat, Thomas Carlyle seinen Landsleuten den Sinn des Faust erklärte.
Die radicale deutsche Jugend hörte nur zu willig auf die Stimmen der
Verleumder. Ein Liebling der jungen Männer war Goethe nur zwei-
mal gewesen, in den Tagen des Werther und wieder als der erste Theil
des Faust erschien; was er jetzt noch schrieb, konnte einem grollenden
Geschlechte nicht genügen, das sich nach politischen Kämpfen sehnte und
in seiner Ungeduld den Adel der Form kaum noch zu schätzen wußte.
In der neuen Burschenschaft, unter den Freunden Arnold Ruge's galt